: Banalität aus Stroh
Der Journalist im Dschungel: ratlos. Nicholas Shakespeare auf den Spuren von Presidente Gonzalo ■ Von Thomas Wörtche
„Es ließe sich höchstens etwas daraus machen, wenn er alle realen Elemente herauslöste“, läßt Nicholas Shakespeare den Rahmenerzähler seines Romans „Der Obrist und die Tänzerin“, Dyer, räsonieren. Dyer ist Lateinamerikakorrespondent einer Londoner Zeitung, dessen Büro abgewickelt werden soll. Niemand in Europa interessiert sich für den Halbkontinent, wenn nicht gerade ein Falkland-Krieg anliegt. In einem fiktiven Städtchen am Amazonas trifft Dyer, an der Jagd nach dem letzten scoop resigniert, Oberst Rejas. Rejas ist der Mann, der „Presidente Ezequiel“ geschnappt hat, den Erzterroristen eines fiktiven spanischsprachigen Staates.
Mit Ezequiel ist Presidente Gonzalo alias Abimael Guzmán gemeint, der Chef des Sendero Luminoso, dessen „Krieg“ gegen die peruanische Regierung an die dreißigtausend Tote gefordert hat. Rejas sitzt in Brasilien, um sich aus innenpolitischen Verwicklungen zu Hause herauszuhalten. Warum er Dyer seine Geschichte erzählt, bleibt unklar. Und daß der Journalist ausgerechnet auf ihn trifft, wo er doch eigentlich den „starken“ Mann der Regierung interviewen will, an den er nicht herankommt, daß er statt dessen plötzlich auf die „bessere“ Quelle stößt, das ist reiner Zufall.
Reiner Zufall auch, daß Rejas' Tochter Ballettunterricht nimmt, sich Rejas in die Tanzlehrerin verliebt und Ezequiel über der Ballettschule hockt: wie ein neuzeitlicher Marat, von der Hautkrankheit Psoriasis gequält, nicht in der Badewanne, aber vor dem Fernseher. Yolanda, die Tanzlehrerin, ist eine treue Gefolgsfrau des Guerillero. Ezequiel-Guzmán bleibt eine erschreckend „leere“ Gestalt, und das macht ihn vermutlich faszinierend für Shakespeare. Schon 1988 hatte er in einer Reportage über den damals noch frei marodierenden Guzmán geschrieben, er sei „eine Banalität, aus Stroh“. Bekanntlich wurde Presidente Gonzalo 1992 verhaftet – von Psoriasis gequält, vor dem Fernseher über einer Ballettschule hockend, deren Leiterin eine treue Gefolgsfrau war. Warum also fiktionalisiert Shakespeare das ganz offensichtlich Gemeinte, warum umgibt er die historisch bekannten Fakten mit einem Cordon aus schieren Zufällen?
Vermutlich, weil er das Stück Politikgeschichte aus Südamerika, dessen grausame Realitäten bekannt sind, auf eine andere Ebene heben will, um „etwas daraus zu machen“. Einen Roman, präziser: einen Liebesroman. Deswegen verzichtet Shakespeare ausdrücklich auf suspense. Die Frage ist nicht, ob Rejas' obsessive Jagd auf Ezequiel (die ihn sein Sozial- und Eheleben kostet) erfolgreich sein wird (das ist nach den ersten Seiten klar). Es geht auch nicht darum, wie sich Terror und Gegenterror bedingen (auch wenn Shakespeare einige Greuel in abstoßender Drastik schildert), denn auch das wissen wir. Es geht ebenfalls nicht darum, zu reflektieren, wie ein Polizist in einer diktatorischen Gesellschaft disponiert ist (Nicholas Shakespeare läßt keinen Zweifel daran, daß „der Staat“ seines Andenlandes genauso terroristisch agiert wie die Damen und Herren Guerilla) oder inwieweit Peru ein Modell für die gesamte lateinamerikanische Tragödie ist. Kurz: Die politischen, pragmatischen Realien, die Voraussetzungen für einen „Politthriller“, scheinen ihm für eine Roman-Dramaturgie nicht auszureichen.
Der Zufall, daß in der Wirklichkeit eine Tänzerin im Spiel war, sichert die heimliche Hierarchie der Sujets des europäischen Romans: Seit der Schwelle von Spätbarock und Frühaufklärung siedelt „Liebe“, erst recht tragische, auf der Werteskala der Romangegenstände ganz oben, ebenfalls „oben“ im Kanon der Künste rangiert das „Ballett“; „unten“ die „niederen Dinge“ wie konkrete Gewalt, Realpolitik, schmutziger Krieg, Action. Dementsprechend ist der Roman strukturiert. Die „Kernerzählung“ ist 1. eine tragische Liebesgeschichte um 2. eine Ballettänzerin in 3. sehr unschönen Realien. In dieser hierarchischen Reihenfolge. Die Emphase des Zufalls konterkariert die „Verschwörungstheorie“ des Politthrillers, die Fiktionalisierung von Ort und Personen zielt in Richtung „Allgemeines im Besonderen“.
In der angelsächsischen Presse rückt man den Briten Shakespeare gerne in die Nähe von Greene und le Carré. Das macht nur Sinn, wenn man sieht, daß er bei allen Analogien (des reinen Plots) sein Buch genau reziprok angelegt hat. Man könnte gegen seine Inszenierung – ideologiekritisch – einwenden, er erzähle eine lateinamerikanische Geschichte mit den (längst erledigten) Mitteln europäischer Ästhetik. Vielleicht weil „exotische“ Tragödien aus den „Kolonien“ für uns Europäer nur „Sinn“ machen, wenn sie gemäß unserer Zentralperspektive inszeniert sind. Das ist ein kompositorisches Problem und spiegelt sich in der Figur Rejas: Die oszilliert zwischen „echt“ und „rein literarisch“. Der Oberst (nicht „Obrist“) ist ein recht „europäischer“ Typ, obwohl indigena. Erst Jurist, dann aus Idealismus bei der Polizei und mit dem Regime innerlich zerworfen, aber seinem Job gegenüber loyal, quasi ein Vargas Llosa undercover. Ob so jemand in einem totalitären Regime Karriere machen könnte, ohne Großzyniker zu werden?
Die Spannung zwischen Stilisierung und realer Verankerung zieht sich durch das ganze Buch. Stilisiert: Rejas' Gattin inmitten von Kosmetiktöpfchen, eine Karikatur des frustrierten Mittelstandes, und die Fanatikerin Yolanda, die mit schönen Reden über Kunst & Kultur brilliert. Dyers Tante gar ist gleich eine Margot Fonteyn Südamerikas. Ganz der Realität verhaftet: Ezequiel, gnadenlos gezeichnet, aber rätselhaft, und die sehr plastischen Schilderungen von Elend, Terror und Angst. Das Buch liegt quer, ohne daß es gescheitert wäre. Trotz seiner bemerkenswert altmodischen Art und kompositorischer Paradoxien funktioniert es. Das liegt an Shakespeares klarer, ruhiger Prosa, mit der er seine Leser in die Handlung zieht. Am Ende ist man ratlos angesichts des Erzählten. Vermutlich wie der gelernte Journalist Shakespeare angesichts der Komplexionen Lateinamerikas. Als Journalist kann er das kaum sagen, als Romancier aber zeigen.
Nicholas Shakespeare: „Der Obrist und die Tänzerin“. Deutsch von Werner Richter. Rowohlt Verlag, 1998, 384 Seiten, 39,80DM
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