Barbès, mon amour

Die Arabophonie hielt schon vor dem großen Rai-Boom Einzug in die französische Popmusik. Jetzt ist sie an ihrem Zenit angelangt. Das symbolische Zentrum dieser Entwicklung ist Barbès, der Stadtteil am Fuße des Montmartre, der Musiker Rachid Taha ist ihr prominentestes Gesicht. Mit Carte de Séjour ebnete er den Weg für die heutige Arab Pop Explosion  ■ Von Daniel
Bax

Als im Herbst 1986 im französischen Parlament über eine Verschärfung des geltenden Ausländerrechts debattiert wurde, verteilten Exkulturminister Jack Lang und Chanson-Legende Charles Trenet gemeinsam eine Schallplatte an die anwesenden Parlamentarier: eine Single der arabisch-französischen Gruppe Carte de Séjour (zu deutsch „Aufenthaltsberechtigung“), darauf deren Version des Stücks „Douce France“ – ein patriotisches Chanson, das Trenet während der faschistischen Besetzung Frankreichs schrieb und das in französischen Schulen zum Grundlernstoff gehört. Die symbolische Aktion gegenüber der damals neuen Regierung unter Ministerpräsident Chirac diente auch als Fingerzeig gegen die erstmals ins Parlament eingezogene Front National.

Schon die Aufnahme selbst war ein politischer Schachzug: „Süßes Frankreich, Land meiner Kindheit, ich habe dich im Herzen behalten“ – diese allseits bekannten Zeilen sang Carte-de-Séjour-Sänger Rachid Taha voller Inbrunst und mit einem absichtsvoll kräftig rollendem R, jenem unverkennbaren Akzent der maghrebinischen Einwanderer – ein deutlicher Hinweis darauf, daß sich die Zeiten geändert hatten, die beurs, so die Selbstbezeichnung arabischer Jugendlicher, fortan stärker mitmischen würden. Das rollende R entwickelte Rachid Taha mit seiner Gruppe zum Markenzeichen, zum Manifest: Mit ihrem Song „Rhoromanie“ feierten sie, als neue Sprache der zweiten Migrantengeneration aus dem Maghreb, das „Rhor“ – einen ungehobelten Bastard aus der arabischen und der französischen Umgangssprache. Die Musik dazu – eine eklektizistische Mischung aus Reggae, Rock und Rai, inspiriert von Postpunk-Acts wie Police – war revolutionär, und ihr Stil sollte zahlreiche französische Bands beeinflussen, am deutlichsten die Negresses Vertes oder Mano Negra. Zu behaupten, Carte de Séjour hätten eine neue Definition des Französischseins in die frankophone Popkultur eingeführt, ist keine Übertreibung.

1989 allerdings – der französische Rock steckte in der Krise – lösten sich Carte de Séjour auf. Abgelöst wurde ihre Arabophonetik durch die Welle der emigrierten Rai-Musiker aus Algerien, die nach Frankreich ins Exil gingen und dort zu nationalen Popstars aufgebaut wurden: Khaled, Cheb Mami, Cheikha Rimitti. Ins Abseits geriet dabei, daß es in Frankreich (wie auch in Algerien) noch eine arabische Musik jenseits des Rai gibt. Ausdruck einer „Kultur des Exils“, wie Rachid Taha betonte, hatte der wütende „arabische Rock 'n' Roll“ von Carte de Séjour wenig gemein mit dem lockeren Rai, der in den Achtzigern in Algerien aufblühte und der hauptsächlich von der Liebe, dem Rausch und anderen schönen Dingen handelte. Rachid Taha war und wurde nie ein Teil der Rai- Szene, dafür war sein Ansatz zu eigenwillig. Sein Bezugspunkt war auch nie Oran, die Geburtsstadt des Rai, sondern Barbès, der turbulente Pariser Stadtteil am Fuße des Montmartre.

Und das, obwohl Taha selbst in Oran geboren wurde – 1958, während des Algerienkriegs. Es hätte also durchaus ein passabler Rai- Star aus ihm werden können, wäre er nicht im Alter von zehn Jahren seinem Vater ins Elsaß gefolgt, der dort in einer Textilfabrik malochte. Zeitweise wuchs Rachid Taha in einem Nonnenkloster auf, zog in die Banlieue von Lyon und arbeitete in einer Fabrik für Heizanlagen, bevor er 1981 Carte de Séjour gründete. Und damit jene Arabisierung des französischen Pops in die Wege leitete, der später, in den Neunzigern, Erfolg auf der ganzen Linie beschieden sein sollte. Die marginalisierte Musik aus den Banlieues ist inzwischen ins Zentrum vorgerückt, das Arabische salonfähig geworden, und aus Musikern wie Rachid Taha, Rai-König Khaled oder der tunesischen Sängerin Amina wurden Chartbreaker und Medienstars. Diese Entwicklung hat einen symbolischen Ort: Barbès.

Nationalorchester des Einwandererbezirks

Barbès, mon amour: Nach diesem Bezirk benannte Rachid Taha sein erstes Solo-Album, das 1990 erschien. Und auf den Einwanderer- stadtteil im Herzen von Paris, dem afrikanischen Zentrum Frankreichs, bezieht sich auch, wie der Name schon sagt, das Orchèstre National de Barbès, kurz ONB. Das Problemviertel unterhalb der weltbekannten Kitschkirche Sacré-Cur ist für Frankreich, was Brixton für England und Kreuzberg für Deutschland ist – für die einen ein Schmelztiegel, für die anderen Ghetto. Für viele Migranten vom afrikanischen Kontinent ist Barbès „le bled“ – Heimat.

„Wenn du, aus dem Maghreb kommend, dich nach Paris aufmachst, gehst du nach Barbès. Barbès ist größer als Paris, es ist bekannt in Algerien, in Marokko, in Mali und im Senegal. Es ist eine Welt. Es ist der Mikrokosmos im Makrokosmos“, schilderte Kamel Tenfiche vom ONB emphatisch dem französischen Musikmagazin Les Inrockuptibles. Und Youcef Boukella präzisierte im Figaro: „Barbès ist das Zentrum. Hier finden sich alle Musikverlage des Maghreb und Schwarzafrikas versammelt, die Läden mit Platten und Kassetten von dort, die beste professionelle Musikschule und die Cafés, in denen sich die Musiker treffen, um ihre Engangements und Verträge zu besiegeln.“ Youcef Boukella ist so etwas wie der künstlerische Leiter des Orchèstre National de Barbès, der neuen Pop-Hoffnung aus Paris. Auch sie spielen keinen „reinen“ Rai, falls es so etwas überhaupt gibt, vielmehr eine Fusion aus traditionellen Stilen des Maghreb, Rai und Jazz-Funk. Sollte das Orchester tatsächlich eine Nation repräsentieren, dann eine Föderation. Sie fusioniert die Einflüsse, ohne die Differenzen einzuebnen, und fungiert als eine Bruderschaft, in der die einzelnen Mitglieder auch verschiedene Stile vertreten.

Zu den Pfeilern der Gruppe gehören der Sänger Larbi Diba aus Sidi Bel Abbés, ehemals Mitglied der algerischen Rock-Rai-Gruppe Raina Rai, und Fateh Benlala, ausgebildet in klassischem arabischen Gesang an der namhaften Schule El Mossila in Algier, ein Interpret des volkstümlichen Chaabi. Aziz Sahmaoui aus Marrakesch, allgemein Aziz le Marocain gerufen, trägt die mystische Tradition der Gnawa bei, die sich zum Klappern ihrer Metallkastagnetten in Trance tanzen, und der Rest der Band sorgt für „la Fête“. Die „Big Band Beur“ (L'Express) steht für eine maghrebinische Melange aus Urbanem und Ländlichem, Traditionellem und Modernem, Sakralem und Profanem. Wichtig ist nur, daß es der Community gefällt, familienfreundlich und generationenverbindend ist: Rai für die Jungen, Chaabi für die Alten. Nach zwei Jahren und über hundert Konzerten in wechselnder Besetzung veröffentlichte das Orchèstre National de Barbès im vergangenen Jahr sein erstes Album „En Concert“ – die Live-Aufnahme eines Konzerts, das im November 1996 im Agora-Theater in Evry, einem Vorort von Paris, aufgezeichnet wurde.

Ihr Hauptquartier hat die Band in Wirklichkeit auch gar nicht in Barbès, sondern in einer alten Fabrik in Arcueil, Val-de-Marne. Dort residiert ein informeller Zusammenschluß von Musikern, Video-Künstlern, Grafikern und Fotografen, der sich sarkastisch Bougnoule Connection schimpft, die rassistische Beleidigung für Araber und Schwarze aufgreifend. Ein loser Verbund mit Netzwerk-Charakter, versteht sich ihr Nationalorchester lediglich als Echo eines rein metaphorischen Barbès, vielmehr als eine Art interkultureller Musikschule mit offenen Türen. Früher bat das ONB einmal im Monat zum traditionellen Diwan im Sahara-Style, doch seit die Kunde von ihrem Überraschungscoup sogar, was selten ist, bis in englische Musikzeitschriften drang, ist es mit der Ruhe vorbei und der intime Kreis für solche Events nicht mehr zu haben.

Gnawa Connection: Auf Platte und Plakaten des Orchèstre National de Barbès prangt als Erkennungszeichen ein alter Gnawi, der die Zunge herausstreckt. Der Gnawi der Gruppe Gnawa Diffusion dagegen spreizt die Finger zum Victory-Zeichen. Die Gnawa sind ehemalige schwarze Sklaven des Maghreb, deren Vorfahren im 16. Jahrhundert aus den Gegenden des heutigen Guinea, Sudan und Mali deportiert wurden. Ihnen sagt man eine spöttisch-subversive Haltung nach, und ihre Musik steht im Ruf, von bösen Geistern Besessene heilen zu können – Musik als Therapie. Doch das gab nicht den Ausschlag für Gnawa Diffusion, sich den feixenden Gnawi als emblematisches Erkennungszeichen zu wählen – Heimatlosigkeit sei vielmehr das verbindende Merkmal, das die Gnawa mit der Jugend in den Banlieues teile, glaubt Bandleader Amazigh Kateb. Gnawa Diffusion sind, im Unterschied zum ONB etwa, eine dezidiert politische Band, ihre Texte handeln von Polizeirassismus und vom Terror in Algerien. Doch ihr Sinn für Humor ist zuweilen durchaus gnawaesk: „Ich möchte ein Sessel sein, in einem Damen-friseursalon“, singen sie in „Ombre Elle“, einer charmanten Ode an die Weiblichkeit.

Gnawa-Connection aus Grenoble

Amazigh Kateb, erst mit 16 nach Frankreich nachgereister Sohn des emigrierten und 1989 verstorbenen kabylischen Schriftstellers Kateb Yacine, sieht sich als „Algerier, der in Frankreich lebt“. Der rebellische Geist wurde dem 26jährigen praktisch in die Wiege gelegt – sein Vater gab ihm den Namen Amazigh, was soviel wie „freier Mann“ heißt, auch aus Protest gegen die rücksichtslose Arabisierungspolitik der FNL. Die Gnawa-Musik des algerischen Südens, die afrikanische Seite des Maghreb also, „entdeckte“ Amazigh Kateb erst, als er im Alter von neun Jahren während der Osterferien mit seiner Mutter nach Timimoun in Zentralalgerien reiste.

Die gnawatypischen Merkmale dieser Musik wie Karkabou-Percussion, Gumbri-Baß und Gnawa- Gesang diffundieren heute im Sound der Gnawas aus Grenoble. Barbès ist überall: Gnawa Diffusion stammen aus Grenoble, dem Wintersportort in den französischen Alpen. Und auch sonst führen, dem französischen Zentralismus zum Trotz, nicht alle Wege nach Barbès. Sawt El Etlas etwa, eine Art Boy-Group à la beur, formierten sich im Schatten der Trabantensiedlungen im Norden der Loire-Stadt Blois, deren Bürgermeister Jack Lang ist.

Sawt El Atlas segeln mit der Kraft der drei R: Ragga, Reggae und Rai. Im Handgepäck die Vorteile der zweiten Migrantengeneration, Mehrsprachigkeit und musikalischer Flexibilität. Bestehend aus insgesamt zehn Kids, davon allein zwei Brüdertrios der marokkanischen Familien El Habchi und Mirghani und allesamt zwischen 1975 und 1980 geboren, ist die „Stimme des Atlas“ auch die Stimme der „new beur generation“, wenngleich Sawt El Atlas vom Erscheinungsbild her eher dem Fähnlein Fieselschweif ähneln. „Généraliser“, ihr erstes Album, ist zwar kommerziell und leichtgewichtig, aber nicht ohne. Im marokkanischen Dialekt singen sie: „Kleb mir kein Etikett auf, das ist kein guter Zug“ oder: „Jemand projiziert Bilder von Schwarzen und beurs / am Ende glaubst du und siehst sogar so aus wie / die Autoknacker in den Sechs-Uhr-Nachrichten“. Party mit Anspruch.

Und dann gab es im letzten Jahr noch Djam & Fam, Kürzel für „Djamel and Family“, ein Dance- Projekt um Djamel Ben Yelles. Der algerische Geiger aus gutem Hause verdingte sich zuvor als Studiomusiker, unter anderem für Cheb Mami und Khaled, und als DJ in diversen Edeldiscos in Oran, bevor er in Besançon auf den marrokanischen Percussionisten Zakaria Riahi traf, mit dem er seine Family gründete. Sie heuerten einen englischen Rapper, eine schwedische Sängerin und einen Rai-Sänger an, und fertig war der Rai-Rap. Das MTV-kompatible Resultat klingt ein bißchen nach Ace of Base, aufgepeppt mit arabesken Motiven – zeigt aber, wie en vogue orientalisierender Schick mittlerweile geworden ist.

Trendbewußter Kopf mit Techno-Schopf

Back to Barbès: Den Hit der vergangenen Saison allerdings landete Rachid Taha. Sein Song „Ya Rayah“ lag wochenlang an der Spitze der französischen Charts. Dabei gab sich Taha nicht einmal die Mühe, das Stück auf französisch einzuspielen, um der Radioquote zu genügen. Den Trends war er auch nach der Trennung von seiner Band stets einen Schritt voraus: Mit „Olé, olé“ kreierte er 1995 einen postmoderenen Hybriden, der Dance-Musik und Techno mit arabischen und lateinamerikanischen Einflüssen zusammenführte, und auch mit seinem wasserstoffblondem Techno-Schopf auf dem Cover entzog er sich lächelnd jeder ethnischen Einordnung. Doch mit seinem aktuellen Album geht der nunmehr 40jährige, wie man so sagt, zurück zu den Wurzeln. „Diwan“ ist, im Sinne des arabischen Wortes, eine Sammlung von Gedichten, in diesem Fall von Liedern legendärer arabischer Chanteure wie Farid El Atrache, Akli Yahiatne, Ahmed Khelifi und Dahmane El Harrachi. Deren Nachfolge tritt Rachid Taha an, indem er an ihre Schlager erinnert.

Im Gespräch mit Les Inrockuptibles erläuterte Rachid Taha unlängst seine Motive für den Blick zurück: „Diese Stücke aus den sechziger Jahren, die meine Eltern hörten, habe ich damals ignoriert. Aber in Wirklichkeit habe ich sie gehört, sie sind in mich eingedrungen, und sie heute zu singen ist eine Art zu sagen: ,Paßt auf, es gibt hier eine Geschichte, und es ist auch die unsrige.'“ Eine Geschichte, die gerade Rachid Taha weiterzutragen sich berufen fühlt, denn: „Es gibt keine Eltern mehr, sie sind auf dem Rückzug. Es ist die Citroän-Peugeot-Generation, die weder die Zeit noch die Kraft gehabt hat, ein Erbe weiterzugeben. Ich fühle die Aufgabe, diese Stücke wiederaufzunehmen, sie aufleben zu lassen.“

So findet das musikalische Erbe der Elterngeneration letztlich seinen Weg in die Popkultur Frankreichs, trotzt damit den Reinheitsforderungen eines weiter grassierenden Front-National-Rassismus. Diese französische Form der popkulturellen Integration, die nicht Assimilation voraussetzt, hält Taha für ein Modell: „Frankreich ist ein Labor für die europäischen Länder. Ich lebe lieber in Paris als in London oder Deutschland. Ich möchte damit sagen, daß ich weniger Ghettos spüre in Frankreich, auch musikalisch. Man hört mehr fremde Sprachen in Paris als in London oder in Deutschland“, sagt Rachid Taha. Erstaunt hat er festgestellt: „Die Engländer entdecken erst jetzt ihre eigenen Carte de Séjour – Asian Dub Foundation.“ Zu Deutschland ist ihm nichts eingefallen.

Rachid Taha & Carte de Séjour: „Carte Blanche / Best of“ (Barclay/SMIS); Rachid Taha: „Diwan“ (Barclay/Motor); Orchèstre National de Barbès: „en concert“ (Virgin France/EFA); Gnawa Diffusion: „Algeria“ (GDO Records/ FMS); Sawt El Atlas: „Génraliser“ (Sony France); Djam & Fam: „Djam & Fam“ (WEA France)

Gnawa Diffusion, Sawt El Atlas und Djam & Fam spielen heute ab 21 Uhr bei den Francofolies im Pfefferberg in Berlin. Rachid Taha und das Orchèstre National de Barbès spielen am 27. bzw. 28. März im Haus d. Kulturen d. Welt