Der Futurologe ist tot

Ossip K. Flechtheim starb 89jährig in Berlin. Der Begründer einer (Politik-)Wissenschaft, die Zukunft vorhersagen sollte, war nacheinander unbequemes Mitglied der Kommunisten, Sozialdemokraten, schließlich der Grünen  ■ Von Ulrich Albrecht

Berlin (taz) – Der angesehene und beliebte Berliner Politikwissenschaftler Ossip K. Flechtheim ist Mittwoch abend im 89. Lebensjahr gestorben. „Seinem“ Otto- Suhr-Institut (OSI), dem Fachbereich Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, blieb er zeitlebens emotional eng verbunden. Auch nach der Emeritierung vor bald 25 Jahren.

Einer Vielzahl von OSI-Absolventen ist Flechtheim zumindest seit der wilden 68er-Zeit ein Begriff. In den Reformkämpfen damals war Flechtheim einer der wenigen Hochschullehrer, der sich auf die Seite der Studierenden stellte (auch wenn er die Auswüchse des Protests, „Politik und Jux“, kritisierte). Ossip Flechtheim trat konsequent für die Drittelparität ein, die gleichberechtigte Teilhabe von Professoren, Assistenten und Studenten in den universitären Selbstverwaltungsgremien. Die „Kritische Universität“ an der FU hat er stets gefördert.

Vor allem faszinierte uns Jüngere Flechtheims politische Biographie. Welcher deutsche Professor konnte schon von sich sagen, daß er sowohl Mitglied der Kommunistischen Partei (von 1927 bis 1932), der SPD (1952 bis 1962), Austritt wegen des damaligen „Rechtskurses der Partei“) wie auch der Grünen (seit 1980) war? Gegenüber Staatssozialisten und Sozialdemokraten definierte er seine Position als eine, „die Kapitulation wie Illusion, Opportunismus wie Dogmatismus vermeidet“. Politisch war er vielfach engagiert, beim Ostermarsch, in der Humanistischen Union, in der Internationalen Liga für Menschenrechte. In Berlin gründete er 1967 gemeinsam mit Wolfgang Neuss, Hans Magnus Enzensberger und anderen den „Republikanischen Club e.V.“ als Diskussionsforum für die, wie man damals sagte, „heimatlose Linke“. Für die Alternative Liste, die Vorgängerin der Grünen, kandidierte Ossip Flechtheim 1980 bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus, fiel aber durch.

Die Wurzeln dieses Engagements darf man in bitteren Erfahrungen in Flechtheims erster Lebenshälfte sehen. 1935 wurde der junge Jurist aus „rassischen“ und politischen Gründen aus dem erst kurz zuvor begonnenen Referendardienst beim Oberlandesgericht in Düsseldorf entfernt. Im gleichen Jahr wurde er wegen seiner Mitgliedschaft in der oppositionellen Linksgruppe „Neu Beginnen“ in Haft genommen. Noch 1935 konnte Ossip Flechtheim emigrieren und gelangte über die Schweiz 1939 in die USA. Als College-Professor schlug er sich, die Lehranstalt mehrfach wechselnd, in den Kriegsjahren durch. Gefallen hat es ihm in den USA nicht sonderlich. Seine Frau Lilli, die er 1942 heiratete, kam als social worker im Land der tausend Möglichkeiten ungleich besser zurecht. Nach Kriegsende kehrte Ossip Flechtheim bereits 1946 nach Deutschland zurück, als Sektions- und Bürochef beim Amt des US-Hauptanklägers für Kriegsverbrechen in Nürnberg.

Widerständigkeit zeigte Flechtheim nicht zuletzt, als der SPD-Senat in den siebziger Jahren daranging, den Linken den proklamierten Marsch durch die Institutionen zu verbauen, und etwa beim Staatsexamen linksverdächtige Lehramtsanwärter zu kujonieren begann. In der Verteidigung „seiner“ Kandidaten zeigte Flechtheim Chuzpe. Es ging damals bei Stimmengleichheit der Staats- und der Hochschulprüfer regelmäßig darum, ob ein Aspirant durchgefallen war. Der damalige Berliner Schulsenator Löffler führte eine Stichstimme für den Vorsitzenden ein. Als Flechtheim das mitbekam, sagte er: „Also ich!“ Geholfen hat diese Usurpierung des Vorsitzes leider nicht. In einer nennenswerten Anzahl von Berufsverbotsfällen hat er sich persönlich engagiert.

Sein wissenschaftliches Hauptanliegen, er nannte es „Futurologie“, kam zu früh. Heute würde man dies unter „zukunftshaltige Entwicklung“ und dergleichen fassen. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift Futurum überlebte nur drei Jahre. Danach wandte sich Ossip Flechtheim der nach der Antrittsrede von Bundespräsdient Gustav Heinemann ins Leben getretenen Friedensforschung zu. Franz Josef Strauß legte persönlich Wert darauf, diese zarte Pflanze in der Bonner Forschungsförderung zu zertreten. Der bayerische Ministerpräsident sah sich genötigt, persönlich gegen Flechtheim zu intervenieren.

Flechtheims wissenschaftliches Vermächtnis werden vor allem seine Arbeiten zur Parteienforschung bleiben (etwa die von Examenskandidaten gefürchteten neun Bände „Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland“) sowie seine Luxemburg-Editionen. In Erinnerung bleiben wird der zierliche Gelehrte, der vor keiner Autorität unnötigen Respekt hatte, schon gar nicht vor einer deutschen, der sich warmherzig seinen Studenten zuwandte, der nie so erfolgreich war wie andere, womöglich berühmtere Kollegen in seinem Fach und der nie trotz seines Ordinariats ins Establishment aufrückte.

Der Autor ist Friedensforscher und lehrt Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.