Wohnen im Verein

Ein Wohnprojekt mit Alt-68er-Attitude: In einem ehemaligen Hotel in Kreuzberg lebt eine Riesen-WG mit 14 Erwachsene und drei Kindern
■ Von Kirsten Niemann

In diesem Haus wohnen bestimmt keine Ordnungsfanatiker: ein gigantischer, etwas krakelig gepinselter Lebensbaum ziert die Fassade des Altbaus. Darunter scheinen immer noch die geraden Buchstaben „Hotel Restaurant“ durch. Auf einem einfachen DIN- A4-Zettel, der ganz unprätentiös neben einer Klingel pappt, stehen ein gutes Dutzend Namen. „Die Bemalung am Haus stammt noch aus den 70er Jahren“, erzählt Gabriela. Sie ist eine der BewohnerInnen des ehemaligen Hotelgebäudes an der Waldemarstraße und wurde von der restlichen Crew zur „Pressesprecherin“ bestimmt.

Siebzehn Personen zwischen neun Monaten und 50 Lenzen leben hier unter einem Dach. Jeder hat sein eigenes Zimmer, dazu kommen Gemeinschaftsräume wie Küche, Eß-, Fernseh- und Gymnastikraum. Seit über neun Jahren wohnt die 34jährige Verlegerin von Kunstbüchern nun schon in ihrem 20-Quadratmeter-Zimmer. Und die Erfahrungen haben gezeigt: ohne ordnende Strukturen, Ausschüsse und Plena klappt hier gar nichts. Das war schon immer so, zumindest seitdem der „Sozialpsychologische Arbeitskreis Charlottenburg“, ein Verein, dessen Wurzeln bis in die Kummunarden-Glanzzeit der 68er zurückreicht, das Haus bei der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft gemietet hat.

Fast wäre das Wohnprojekt Mitte der 70er Jahre der Kahlschlagsanierung zum Opfer gefallen, wie all die anderen Altbauten in der Straße. Der Abriß war schon beschlossene Sache. Und nachdem man sich der Kündigung widersetzt hatte, flatterte auch schon die Räumungsklage ins Haus. Rettung kam in Form eines wohlhabenden Privatmannes; der kaufte schließlich das Haus und schloß mit dem Verein einen Mietvertrag ab. Mittlerweile ist der Mann verstorben und die Bewohner zahlen ihre jeweils 400 Mark Miete an die Kirche, die das Haus geerbt hat. Ein Umstand, der für manche am Anfang durchaus ein bißchen gewöhnungsbedürftig war.

Was heute fast jeder Studi erlebt und oft bereis schon hinter sich gelassen hat, war zur Zeit der Projektgründung noch ein Experiment jenseits der angestaubten Kernfamilienidylle: Das „Zusammenleben von Singles und Paaren in verschiedenen Altersstufen, mit und ohne Kind“, sollte hier erprobt werden. Anschließend wollte man diese Erfahrungen – nach guter, alter Weltverbesserermanier – in öffentlichen Veranstaltungen einem breiten Publikum zugänglich machen. Auch Gabriela schmunzelt heute über diesen Aktionismus vergangener Tage.

Doch diskutiert wird natürlich immer noch, und zwar so ziemlich über alles. Alle 14 Tage gibt es ein Plenum, in dem die alltäglichen Dinge des Zusammenlebens besprochen werden. Es wird zum Beispiel darüber verhandelt, wer als nächstes einziehen darf, wenn wieder mal ein Zimmer frei wird. Ob die Studentin, die gerade am Examen schreibt, das Computer- Zimmer benutzen darf, und wann die nächste Party läuft. Simone, mit 24 Jahren die jüngste der Erwachsenen, ist zum Beispiel dreimal zum Abendessen gekommen, bis jeder sie kennengelernt und sein O.K. zu ihrem Einzug gegeben hat. „Wollen wir noch ein Kind einziehen lassen?“ ist auch so eine Frage, die gemeinschaftlich erörtert wird. Jedes Kind erhält schließlich, ohne daß dafür Miete oder Kostgeld bezahlt werden muß, sein eigenes Zimmer. Oft ist das sogar größer als das der Erwachsenen. „Wenn wir im Juli ein Fest feiern wollen, fangen wir im Januar schon an zu planen.“ Das mag man umständlich finden, „hat sich aber bewährt“. Ebenso wie das gemeinsame Abendessen um halb sieben, das jeden Abend von jeweils zwei Leuten gekocht wird. Natürlich vegetarisch. Fleischhaltiges geht extra. Unerfahrenen Vegetariern bietet ein „Gemüsekalender“ an der Küchenwand praktische Lebenshilfe: Im Winter ist, wie man hier lernen kann, Grünkohlzeit, und Spargel gibt es erst ab Mai.

Küche und Eßzimmer – die Herzstücke der Wohngemeinschaft – sind so keimfrei, wie in einer der üblichen Vierer-WGs eigentlich nur selten. Bis unter die Decke stapeln sich Lebensmittel, Töpfe, Kochlöffel – alles Dinge, die man nun einmal so braucht, wenn man eine ganze Fußballmannschaft satt kriegen will.

Das Wohnprojekt Walde – ein bunter Haufen von Leuten mit unterschiedlichstem Background und Profession: Lehrer, Studenten, Arbeitslose wie Naturwissenschaftler bewältigen dieselben Probleme, wie überall. „Parallel zur Bundestagsdebatte kommen bei uns die selben Themen auf den Tisch“, erzählt Gabriela. Beispiel: Qualmen in den Gemeinschaftsräumen. Auf die Frage, ob das reglementierte Leben in der Gemeinschaft nicht einengt, kommt ein klares Nein. „Je größer die Gruppe, desto größer die Individualität. Bei so vielen Mitbewohnern wird einem erst vergleichsweise spät etwas übel genommen.“