Berliner Kids sind nicht en vogue

Auf der Internationalen Tourismusbörse locken Reiseveranstalter ab heute wieder in alle Welt. Auch bei Jugendreisen steigt der Bedarf – doch geförderte Plätze gibt es zuwenig  ■ Von Peter Kasza

Um zum Büro von Eva Meier zu kommen, muß man über Schubkarren steigen und an Betonmischmaschinen vorbei. Das Haus in bester Lage an der Chausseestraße wird seit drei Jahren renoviert. In diesem Wust von Umbruch und Aufbruch befindet sich die kleine Geschäftsstelle der „Internationalen Berliner Kinder- und Jugendhilfe“. Umbruch und Aufbruch kennzeichneten auch die Organisation selbst in den letzten Jahren. Eva Meier hat sie hinduchgeleitet. Sie ist die Geschäftsführerin. Seit den 50er Jahren betreut sie das Gastelternprogramm, das bis heute 211.000 Berliner Kindern ermöglicht hat, außerhalb des „Molochs“ Urlaub zu machen.

Die Idee ist so simpel wie einleuchtend: Stadtkinder aus sozial schwachen Familien reisen in benachbarte Länder, lernen dort in Gastfamilien andere Kulturen kennen, finden in den Bergen und an den Küsten Abwechslung, Ruhe und Erholung vom großstädtischen Alltag. Die Jugendhilfe übernimmt die Organisation und finanziert die Fahrten. Die Gasteltern kriegen keinerlei finanzielle Vergütung. Sie nehmen die Kinder für bis zu drei Wochen aus freien Stücken auf. „Unsere Kinder sind für die Gasteltern wie ihre eigenen Kinder“, sagt Eva Meier.

1955, während des Kalten Krieges, brachte der erste Sonderzug 55 Kinder nach Schweden. Nach dem Mauerbau 1961 kamen die Schweiz, Holland, Österreich, Spanien und Großbritannien hinzu. Die Idee, Kinder aus der „Frontstadt“ herauszuholen – wenn auch nur für kurze Zeit – war europaweit populär. In der Hochphase der 70er Jahre kamen bis zu 6.000 Kinder jährlich in den Genuß der „Verschickung“. Doch nach 1989 waren die Berliner Kids plötzlich out. „Alle handelten nach dem Motto: Mauer weg, alles gut“, wie Eva Meier sich ausdrückt. „Und das, obwohl sich die soziale Situation eher verschärft hat.“ 1994 stieg die schwedische Partnerorganisation aus dem Programm aus und konzentrierte sich fortan auf Kinder aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem dem Baltikum.

Auch der Senat machte einen Rückzieher. 1993 kürzte er den Etat um die Hälfte. Fortan wurden nur noch Reisen in den Sommerferien angeboten, und auch die Teilnehmerzahl reduzierte sich. 1995 übertrug die Jugendverwaltung dann die Organisation an einen privaten Trägerverein. Damals zog man in das neue Gebäude um, und statt in Rente zu gehen, wagte Eva Meier einen neuen Aufbruch und führte die Geschäfte weiter. Die Finanzierung obliegt auch weiterhin dem Senat. Derzeit werden jährlich zirka 1.450 Kinder verschickt. Tendenz leicht steigend.

„Tendenz stark sinkend“, lautet dagegen die Prognose der bezirkseigenen „Jugenderholungsmaßnahmen“. „Die Finanzierung für Familienurlaub tendiert sowieso gegen Null. Und auch bei der Jugenderholung, also Reisen, die sich über ein bis zwei Wochen erstrecken, sparen die Bezirke.“ Eberhard Landwehr von der Jugendverwaltung klingt resigniert: „Die Nachfrage ist unwahrscheinlich groß. Doch wir können sie nicht befriedigen.“ Konkrete Zahlen, wie viele Bewerber leer ausgehen, gibt es nicht. Dennoch sprechen Bezirksschätzungen eine deutliche Sprache. Beim Bezirksamt Marzahn gehen ein Viertel mehr Anträge ein als die 780 zur Verfügung stehenden Plätze. In Hellersdorf kommen auf 1.000 Plätze sogar 1.500 bis 2.000 Bewerber.

Die im Landeshaushalt für Ferienreisen vorgesehenen Mittel sind zwar seit zwei Jahren stabil geblieben, doch wie die Bezirke die Gelder verwenden, das bleibt ihnen überlassen. Sind sie der Meinung, andere Projekte müßten Vorrang haben, kürzen oder streichen sie die Jugendfahrten.

Während zum Beispiel Friedrichshain überhaupt keine Reisen mehr organisiert und sich lediglich auf die Information über die Angebote freier Träger beschränkt, bietet Wedding weiterhin vom Bezirk organisierte Zeltlager an. Auch Kreuzberg bemüht sich, sein Kontingent an Plätzen aufrechtzuerhalten. Anmelden kann man sich im Bezirksamt. Die Organisation der Reisen wurde jedoch in die Hand freier Träger gelegt. „Kein eigenes Personal“, heißt es lapidar. Die Zahl der angebotenen Plätze ist von 1.200 vor fünf Jahren auf momentan 600 gesunken. In Neukölln ist die Situation ähnlich, mit dem Unterschied, daß die freien Träger auch für die Anmeldeformalitäten zuständig sind. Möglichkeiten für sozial schwächer gestellte Jugendliche gibt es aber weiterhin. „Wir achten darauf, daß eine soziale Mischung herrscht“, versichert Olaf Collet von Falken Jugendreisen, einem freien Träger.

Mitfahren kann jeder, ob arm oder reich. Die Kosten richten sich in den meisten Bezirken nach der Höhe des Familieneinkommens. „Wir haben rund 30 Prozent Nullzahler, das heißt, die Eltern dieser Kinder sind auf Sozialhilfe angewiesen. 40 Prozent sind Teilzahler, und 30 weitere Prozent bezahlen den vollen Preis“, so die Schätzung Landwehrs. Selbst Vollzahler kommen nur für Reise und Unterkunft auf. Die pädagogische Betreuung finanziert weiterhin das Bezirksamt.

„Die soziale Situation hat sich derart verschlechtert, daß viele eine Reise aus ihrer eigenen Tasche nicht mehr finanzieren können“, faßt Landwehr seine Eindrücke zusammen. Doch die Etats der Bezirksämter schrupfen stetig. „Die Finanzierung der Reisen ist jedes Jahr ein Zitterspiel“, wie es aus dem Bezirksamt Wedding heißt. Ihre Hoffnung können reisewillige Jugendliche auf Eva Meier legen. Nachdem der Umbau abgeschlossen ist, will sie noch einige Jahre weitermachen. „Meine Berliner Kinder brauchen mich noch“, sagt sie und lächelt – zuversichtlich.