Ist mir schlecht!

Alles Perverse außer Ich: „Sex II“, Sibylle Bergs gesammelte Phantasien über eher fragwürdige sexuelle Gebräuche  ■ Von Jörg Magenau

Maxim ist Autor und onaniert am liebsten zu Tierpornos. Bert ist Oberarzt und hat keine Zeit für Sex. Peggy ist Erzieherin, hört Musik von Phil Collins und findet, daß Männer Schweine sind. Gottfried ist Zahnarzt. Er fesselt Patientinnen an den Behandlungsstuhl und entfernt ihnen statt der schmerzenden Zähne die Gebärmutter. Beate, Graphikerin, hält ihr Kind seit zehn Jahren im Keller wie weiland Kaspar Hauser: So stört es weniger. Rudolph ist Professor. In der Abstellkammer seiner Wohnung hängt ein Strichjunge am Fleischerhaken. Der Professor drückt seine Zigarette in dessen Augen aus und uriniert in die leeren Augenhöhlen.

Und so weiter und so fort. Ist so der Mensch? Eine Spezies dekadenter Kaninchen- und Kinderficker, Zwerginnenvergewaltiger, Bauchaufschlitzer und Selbstmörder? Nichts als Scheiße im Hirn und im Gedärm und weiträumig auf allen Straßen? Manche machen Kunst zu ihrem Zeitvertreib und hängen „farblich interessante“ Lollis an die Wand. Andere ruhen nicht eher, „bis auch das letzte Hakenkreuz übertüncht“ ist. Und die bedauernswerten Angehörigen der „Spaßgeneration“ gehen inzwischen vom Tätowieren und Piercen zu modischen „Zieramputationen“ über.

Das ist recht hübsch, aber auch kein erstrebenswertes Ziel, das sich lohnt. In Sibylle Bergs schwungvoll imaginiertem Panoptikum von Perversen und Spießern gibt es keinen Trost nirgends. „SexII“ heißt verkaufsträchtig der neue, zweite Roman der gebürtigen Leipzigerin, die seit ihrem Erstling („Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“, 1997) als kultverdächtig angesagt ist und zur Zeit- und Allegra-Kolumnistin aufstieg. „SexII“ ist vermutlich am besten englisch auszusprechen, damit es klingt wie „Terminator 2“ oder andere durchnumerierbare Actionfilme. Zum Buch erscheint auch eine CD, die den offiziellen Soundtrack zur Lektüre liefert: mit düsterem Sperrfeuer von Rammstein und Somnambulem von Element of Crime.

In den Mittelpunkt ihres Buches und ins Zentrum der verabscheuungswürdigen Gesellschaft stellt Sibylle Berg ein sensibles, eitles Ich – wer anders als die Autorin selbst? „33. Normal schlechte Kindheit, normal aussehend, normal alleine, normal übersättigt. Ein ganz normales Arschloch“, so führt die Erzählerin sich kokett ein. Eines Morgens wacht sie wie im Drogenrausch auf, plötzlich mit der rätselhaften Gabe versehen, durch alle Wände und in alle finsteren Herzen blicken zu können. Nur eine „kleine Wahrnehmungsverschiebung“, und schon gehört sie nicht mehr dazu, sondern weiß über alle Bescheid, die ihr begegnen.

Was folgt, ist eine Sammlung spätpubertärer Allwissenheitsphantasien, die einen Nachteil hat: Wissen macht einsam – zumal dann, wenn alle anderen so schreckliche Kreaturen sind. Wie in einem Horrortrip geht die Erzählerin von Kettensägenmassaker zu Kettensägenmassaker. Jede Begegnung ein Alptraum, ein präapokalyptischer, mörderischer Zeitvertreib.

Das könnte – im Gestus der blinden Wut gegen alle und jedes und also gegen nichts – auch vom frühen Christoph Schlingensief stammen. Doch anstatt froh zu sein, in der recht eintönigen Inszenierung des Lebens nach dem schlichten Reglement „ficken und gefickt werden“ nicht länger mitmischen zu müssen, wird Bergs Erzählerin immer trauriger; vor dem eigenen Selbstmitleid geht ihr rabiater Haß widerstandslos in die Knie. „Alles ist so dreckig um uns, so traurig, ist das Ende der Welt, das Ende der Idee, daß aus Menschen noch mal was werden könnte.“

Knapp 200 Seiten lang reihen sich ihre „Schnappschüsse“ aneinander. In welcher Reihenfolge man die kurzen Porträts liest, ist relativ egal, und obwohl einige brillante, einfühlsame Stücke darunter sind, ermüdet man angesichts dieser geballten Ladung rasch. Ordnung entsteht durch die starre chronologische Reihenfolge. Über jedem Abschnitt ist brav die Tageszeit notiert, als handle es sich um ein amtliches Protokoll.

Ein Zusammenhalt ergibt sich zudem durch die fortlaufende Geschichte der Ich-Erzählerin. Auf der Flucht vor den Menschen begibt sie sich in den Zoo. Als sie weinend vor dem Affengehege sitzt, legt sich eine Hand auf ihren Scheitel: Ein junger Mann steht hinter ihr, der Märchenprinz, keine Frage, blondlockig und blauäugig, und es ist Liebe auf den ersten Blick. Die beiden verbringen einige schöne Stunden zusammen, aber Happy-End ist streng verboten: Sibylle Berg wäre nicht Sibylle Berg, wenn sie die Liebessehnsucht nicht auch wieder zerstören müßte in einem splatterhaften Finale. Kitsch und Grausamkeit, Sentimentalität und Gewalt gehören anscheinend zwingend zusammen.

Mehr als von der Liebe – und das ist das Erstaunlichste an diesem Buch – erhofft Berg von der Literatur. Daß ihre Erzählerin ihren Horrortag überhaupt durchsteht, verdankt sie einem Stapel von „Geschichten gegen den Wahnsinn“, die sich zwar substantiell nicht vom Rest unterscheiden, aber doch irgendwie – man glaubt es kaum – die Kraft haben, „lächeln zu machen“: „Lesen hilft. Es hat schon viele gerettet. Mich auch, früher, wenn ich glaubte, die Welt sei zu groß für mich, haben mir die Bücher geholfen, an gute Orte zu gehen. Was lernen wir daraus.“

Tja. Was lernen wir daraus? Daß man doch besser „Momo“ lesen sollte? Erhebt sich da, aus den Trümmern einer völlig beschissenen, auf den Hund gekommenen Welt, der bürgerliche Glaube an die Heilungskraft der Literatur? Das ist ein erstaunliches Resultat. Aber irgendeine Rechtfertigung dafür, daß Schreiben sinnvoller ist, als Lollis an die Wand zu nageln, muß der Mensch ja haben, wenn er in einer sinnlosen Welt weiter Bücher veröffentlicht.

Angeblich, so sagt die Erzählerin, gibt es „andere, deren Beruf das Empören ist und die nicht eher ruhen, bis der letzte Faschist zerborsten, die letzte Glatze behaart ist“. Dennoch ist jede ihrer Zeilen von Empörung durchzittert. So scheußlich wie auf diesen Seiten wird sonst nur selten in Kotze gegriffen. Wo bloß die Hände abwischen? „Wer denkt, kann nicht zufrieden sein“, heißt es einmal in guter aufklärerischer Tradition. Das stimmt vielleicht. Sibylle Berg verfällt aber dem Umkehrschluß, radikale Inszenierung von Unzufriedenheit signalisiere Schärfe des Denkens. Das ist ganz bestimmt ein Irrtum.

Sibylle Berg: „Sex II“. Roman. Reclam Verlag, Leipzig 1998, 198 Seiten, 29,80 DM

Am Dienstag, dem 10.3., ist Sibylle Berg zu Gast im Berliner Benno- Ohnesorg-Theater bei Wiglaf Droste. 21 Uhr, Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz