"In manche Arena gestürmt"

■ Am 8. März wird Walter Jens 75 Jahre alt. Ein Gespräch mit dem Rhetorikprofessor über die Funktion des Intellektuellen, die Niederungen des öffentlichen Sprechens und was zu tun bleibt

taz: Herr Jens, Sie sind im buchstäblichen Sinn ein gefragter Mann. Ermüdet es nicht, zu allem und jedem gefragt zu werden?

Walter Jens: Ich war nicht zu allem, aber zu vielem gefragt. Doch ich antworte nur in seltenen Fällen. Ich bekomme im Jahr etwa 150 Anfragen. Reden kann ich – Gründlichkeit und Selbstkritik wachsen in zunehmendem Alter – nur vier halten. Das sind dann Ansprachen, deren Vorbereitung mich reizt. Also viel gefragt, aber eher spärlich antwortend.

Dennoch gibt es zahlreiche politische und gesellschaftliche Debatten in der Geschichte der Bundesrepublik, in denen Sie Ihre Stimme erhoben haben. Gibt es darunter etwas, wo Sie, rückschauend, lieber vorgezogen hätten, zu schweigen?

Wenn ich meine Unterschriften ansehe, kann ich nur sagen: Es sind sehr wenige. Ich gehöre nicht zu den notorischen Unterschriftleistern. Meine Auftritte in sogenannten Talkshows, in denen man 1 Minute und 30 Sekunden zu Wort kommt, haben sich dem Punkt Null angenähert. Aber wenn mir etwas sehr wichtig erschien, dann bin ich mit Energie und Courage in die Arena gestürmt, soweit man mit 75 noch stürmen kann. Ein Musterbeispiel dafür ist die Erfurter Erklärung. Ich glaube, daß die soziale Umschichtung von unten nach oben so nicht weitergehen kann. Ich denke auch, daß sich das Kapital am Ende selbst verzehren wird. Die Identität von steigenden Aktienkursen und steigender Arbeitslosigkeit wollte ich nicht mitmachen, deshalb habe ich die Erfurter Erklärung unterschrieben. Ich habe erst vor wenigen Wochen mit anderen einen Aufruf unterschrieben: Wir stimmen für die SPD. Ich habe mich in diesem Fall für eine Partei verwandt, die den Großen Lauschangriff nicht unterschreiben darf. Wenn der Große Lauschangriff ohne Einschränkung durchkäme, würde ich davon wieder abrücken. Das geht nicht mit mir.

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre waren Unterschriftenlisten und Resolutionen ein einflußreiches politisches Medium, man denke nur an die „Briefe zur Verteidigung der Republik“. Die Bedeutung solcher Aufrufe und Resolutionen hat sich gewandelt.

Zunächst einmal gab es damals im Gegensatz zu heute eine ganze Reihe von zornigen Alten, ich erinnere nur an die Berliner Dreierbande Gollwitzer, Scherf und Albertz, selbstverständlich auch an meinen Freund Heinrich Böll. Leute dieses Kalibers sind nicht so viele nachgewachsen. Ich sehe mich da ein bißchen vereinsamt. Die Rolle der Intellektuellen ist fraglos bedeutungsloser geworden. Das kann sich aber wieder ändern.

Es wird viel vom Schweigen oder vom Verschwinden des Intellektuellen gesprochen. Sie sind immer einer gewesen, dem es auf das gesprochene Wort angekommen ist. Hat sich die Bedeutung des gesprochenen Wortes verändert?

Das glauben manche in Zeiten der Niederung politischer Rhetorik. Die Reden im Bundestag und die Verlautbarungen des Bundeskanzlers sind ein Trauerspiel. Aber die Beredsamkeit und das mündliche Wort sind keineswegs obsolet geworden. Eine einzige Rede von Oskar Lafontaine in Mannheim – und der Parteivorsitzende der SPD wurde ausgewechselt. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, daß man mit einer Rede in einer Gesellschaft von träge dösenden Menschen etwas bewegen kann.

Sie haben sich ja schon sehr früh auch mit dem Fernsehen beschäftigt. Dem Fernsehen wird ja häufig der Niedergang des öffentlichen Sprechens zugeschrieben. Betrifft das auch die intellektuelle Funktion?

Ich habe genau 1.000 Fernsehkritiken unter dem Pseudonym Momos, das ist der Gott des Tages, in der Zeit geschrieben. Heute fände ich weniger Gelegenheit, am Ende von Sendungen in die Hände zu klatschen. Die Entpolitisierung, auch in öffentlich-rechtlichen Anstalten, nimmt zu. Ich glaube allerdings immer noch, daß einzelne relativ viel ausrichten können. Auch heute noch.

Die Akademie der Künste, deren Ehrenpräsident Sie sind, hat ja eine große Ausstellung zum 100. Geburtstag von Brecht ausgerichtet. Behagt es Ihnen eigentlich, wenn die Feierlichkeiten für einen wie Brecht zu einem staatstragenden Ereignis geraten?

Man muß nachdrücklich betonen, daß es Zeiten in der Bundesrepublik gab, in denen der Außenminister, Heinrich von Brentano, Brecht mit Horst Wessel verglich. Daran ist zu erinnern. Man soll in allgemeine Jubelchöre nicht zu rasch einstimmen. So habe ich mich den Jubelchören im Fall von Ernst Jünger nicht angeschlossen, obwohl ich gebeten wurde. Ich halte ihn für einen schlechten Schriftsteller und einen Stilisten von minderem Rang. Im Augenblick des Todes ist das nicht gerade zu betonen. Aber vieles bei Jünger ist doch eher Macho- und Landserstil, das wollen wir lieber vergessen. Sei's drum, der Intellektuelle ist gehalten, gegen den Strom zu schwimmen.

Als öffentliche Person geht man ja nach dem 75. Geburtstag nicht in Pension. Gibt es etwas, das Sie noch unbedingt auf den Weg bringen wollen?

Ich muß das Meine tun, um dafür zu sorgen, daß der Umzug der Akademie der Künste an den Pariser Platz so rasch wie möglich vonstatten geht. Ich werde mich aber hüten, meinem Nachfolger György Konrád, dem ich freundschaftlich verbunden bin, in irgendeiner Weise hineinzureden. Ich werde im übrigen darauf sehen, daß in der täglichen Mitarbeit das Zusammenspiel zwischen Ost- und Westmitarbeitern zu einer freundlichen Selbstverständlichkeit wird, daß man gar nicht mehr weiß, wer aus Ost stammt und wer aus West. Auf dieses Anti-Treuhandmodell, das wir bei der Vereinigung der beiden Akademien gegen großen Widerstand durchgesetzt haben, bin ich jedenfalls sehr stolz. Interview: Harry Nutt