: Selbstmord als gesellschaftliches Erziehungsmodell
■ In Japan nehmen die Selbstmorde unter Geschäftsleuten zu. Finanznot treibt viele in den Tod
Tokio (taz) – Drei Männer in Geldnöten begehen kollektiven Selbstmord in einem Stundenhotel außerhalb von Tokio. Das war vor einer Woche. Ein Ehepaar erhängt sich, weil es die Gehälter seiner Angestellten in einem kleinen Gasthaus nicht mehr bezahlen kann. Das war vor drei Tagen. In Japan grassiert eine Suizidwelle, hämmern die Medien des Landes den Leuten in den Kopf. Der Grund: die Finanz- und Wirtschaftskrise, die immer mehr Menschen zu verzweifelten Tat treibt.
Als Beweis dient die offizielle Polizeistatistik, die tatsächlich eine Steigerung aufweist. So haben sich 1996 rund 480 Unternehmer oder leitende Angestellte – 16,3 Prozent mehr als im Vorjahr – das Leben genommen. Rund ein Viertel der 22.250 Selbstmorde führt die Polizei auf wirtschaftliche Schwierigkeiten zurück. Darunter haben sich 2.800 Selbständige das Leben genommen. Ein Indiz mehr, daß die Finanznot Menschen in den Suizid treibt.
Doch die deutsche Forscherin Susanne Kreitz-Sandberg warnt in Tokio vor einer Dramatisierung der Lage. Sie hat mit einer aufsehenerregenden Arbeit den Suizid bei Jugendlichen in Japan und Deutschland verglichen und ist zum Schluß gekommen, daß die Unterschiede in den beiden Ländern gar nicht so groß sind. „Die Wahrnehmung des Selbstmords ist in den beiden Gesellschaften anders“, sagt Kreitz-Sandberg. In Japan werde die Dramatik der Selbsttötung in den Medien hochgespielt, in Deutschland eher vertuscht. Zudem werde Japan im Ausland noch gerne als prädestiniertes Suizidland gesehen, weil längst überkommene Vorstellungen von Selbsmordpiloten aus dem Zweiten Weltkrieg – Kamikaze – noch immer nachwirkten.
Außerdem hat die Forscherin herausgefunden, daß Selbstmorde in Japan dazu benutzt würden, um als Präzedenzfall für ein bestimmtes gesellschaftliches Problem herzuhalten. So gesehen werden die jüngsten Selbstmorde von japanischen Medien genutzt, um als abschreckende Lehrbeispiele auf die Wirtschaftskrise und ihre Folgen aufmerksam zu machen. Auf ähnliche Weise seien 1996 Selbstmorde von Schülern, die schikaniert wurden, eingesetzt worden, um das Problembewußtsein an Schulen zu fördern. So werde jetzt in der Gesellschaft das Bewußtsein für künftige soziale Härten gestärkt, die auf Japan warten.
Die Arbeitslosigkeit steigt unaufhörlich und hat im Februar 3,7 Prozent erreicht. Würde man Arbeitslose nach EU-Kriterien erfassen, dann sind in Japan schon 6,2 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung ohne Stelle. Für ältere Angestellte, die ihre Arbeitsstelle bisher als bis zur Rente garantiert betrachtet haben, bedeutet der Stellenverlust mitunter auch den Verlust der Identität. Die landesweit tätige Hilfsorganisation „Inochi no denwa“ (Lebenslinie) bemerkt, daß von Männern in dieser Altersgruppe die Hilfsappelle zugenommen haben. Jetzt wird auch ein Film produziert, der die Selbstmordproblematik unter älteren Männern zum Thema nimmt. André Kunz
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