Prohelvetia

Die Schweizer Theaterlandschaft zeichnete sich zuletzt durch gemütliches Palavern aus. Ab Sommer beginnt sich jedoch das Intendantenkarussell zu drehen  ■ Von Jürgen Berger

Vorsichtig ist er, der Schweizer, manchmal ziemlich langsam und sich in seiner Bergidylle selbst genug. Würde man ihn nach seinem Lieblingsberuf fragen, käme wohl „Zöllner“ heraus, zu seinen Theatern hat er ein entsprechendes Verhältnis: Am liebsten wäre ihm, er könnte sie per Zollplombe versiegeln, auf daß nichts Ungebührliches darin geschehe. Peter Stein wurde 1969, als er noch dem linkspolitischen Agitprop anhing, nach drei Monaten wieder aus dem Züricher Schauspielhaus gejagt. Seither lohnt die Reise selten.

Statt dessen hat sich in den letzten Jahren das kleine Theater Neumarkt unter dem Führungsgespann Volker Hesse/Stephan Müller zur ersten Züricher Schauspieladresse gemausert. Urs Widmers „Top Dogs“ wurde letztes Jahr beim Berliner Theatertreffen als beste deutschsprachige Produktion gefeiert. Am letzten Donnerstag kam „Nachtbuch Zürich“ zur Uraufführung, ein Projekt der Komponistin Susanne Hinkelbein und der Regisseurin Barbara Frey. Vor einigen Jahren hat Hinkelbein eine Oper nach Texten der Neuen Züricher Zeitung komponiert, während Frey ein Herz fürs Makabre hat und in Mannheim ein „Mörderinnenseminar“ inszenierte. Die beiden stießen während ihrer Suche nach Züricher Originaltönen neben Alltagsgesprächen („Ist mein Termin beim Analytiker um halb zwei oder drei?“) auf historische Quellen und bauten in ihre Collage einen kurzen Exkurs zur Genealogie der Züricher Scharfrichter mit detaillierten Beschreibungen von Verbrennungen ein.

Ganz ernst wird Lapidares neben hirnphysiologischen Erkenntnissen über Schlafen und Träumen gestellt und in hochmögendem Kammerton dezent dissonant gesungen. Und dann schlafen sie wieder, die sieben Züri-Träumer des Theater Neumarkt, als seien sie skulpturale Bühnenbeweise dafür, daß es so in den Schweizer Theatern nicht weitergehen kann. Und als würden sie einen Vorgeschmack darauf geben, daß ab diesem Sommer sowieso alles anders wird: Wenn Basel den Auftakt macht mit einem landesweiten Austausch der Führungskräfte.

Die Schweizer Version des Aussitzens

Notwendig ist das tatsächlich, bedenkt man, daß es im Züricher Schauspielhaus 1989 zur letzten merklichen Erhöhung des Pulsschlages kam. Die Volksabstimmung über die Abschaffung der Schweizer Armee und die Uraufführung des letzten Stückes von Max Frisch standen an, der zu seinem letzten Schlußapplaus auf einer Bühne erschien. Daß er „Jonas und sein Veteran“ mit dem Untertitel „Ein Palaver“ belegte, wirkte wie ein ironischer Kommentar auf die Schweizer Kultur des Aussitzens aller Anfechtungen, für die der alemannische Sprachraum einen eigenen Ausdruck geprägt hat: „Hockede“ heißt es, wenn man zusammensitzt, einen Wein schlürft und palavert, auf daß ansonsten nichts passiere.

Eine Aussitzkultur, die Christoph Marthaler (47) subversiv ästhetisiert und im Basler Theater mit „Prohelvetia“ ultimativ in Szene gesetzt hat. Das war 1993 und ein Schlag ins Kontor der Schweizer Gemütlichkeit. Man sah die durch jahrhundertelange Überwindung von Gebirgssteigungen genetisch fixierte Slow Motion des Alpenländers als theatralische Zerdehnung. Marthalers Aufstieg aus der freien Szene ins Basler Stadttheater und zum hochdotierten Kultregisseur während Frank Baumbauers Intendanz gehören zu den Ausnahmen im eher gedämpften Betrieb Schweizer Theatermetropolen wie Bern, St. Gallen, Thun, Fribourg und Luzern.

Eine weitere Ausnahme ist das Theatre Vidi-Lausanne jenseits des Röschtigrabens, das zu den besten im französischsprachigen Raum zählt. Mit der Ausnahme Baumbauer allerdings verfuhr der Schweizer wie gehabt und drehte ihm den Geldhahn ab, anstatt sich einzugestehen, daß er dessen aufregendes Theater schlichtweg als „Ruhestörung“ empfand.

Kaum zu glauben also, daß den wichtigsten Theatern der Alpenrepublik ab diesem Sommer ein gestaffelter Schauspielaustausch bevorsteht. Als habe der Schweizer es denn doch mit der Angst zu tun bekommen, den gesamteuropäischen Anschluß zu verlieren, holt er nun verlorene Söhne zurück. Los geht es im Sommer. Der gebürtige Schweizer Stefan Bachmann (31) übernimmt das Basler Schauspiel, das in den letzten vier Jahren vier Intendanten und sechs Schauspielchefs über sich ergehen lassen mußte. Derzeit funktioniert nur noch, daß Dramaturgen-Autoren wie John von Düffel die Gunst des Schlamassels nutzen und eigene Stücke zur Uraufführung bringen. Ansonsten streitet sich der letzte Schauspielchef, Peter Löscher, in offenen Briefen mit dem noch amtierenden Intendanten Michael Schindhelm, der ihn erst holte und dann rauswarf – um Bachmann zu holen.

Spaßkultur mit Stefan Bachmann

Daß Bachmann, designierter Hausregisseur der Salzburger Festspiele, zu Trivialisierungen neigt, stört in der Schweiz derzeit noch niemanden. Auch Werner Düggelin (68), Regisseur und Elder Statesman der Schweizer Theaterszene, sieht darüber hinweg. Bachmanns flapsig-spielerisches Theater sei genau richtig für das Basler Publikum, sagt er und könnte insofern recht haben, als aufgrund des derzeitigen Tiefstandes unter Umständen nur noch eines zählt: Spaß.

Hartes Brot dürfte ab nächstem Sommer Barbara Mundel (39) kauen, wenn sie Intendantin des Luzerner Theaters wird und der deutschsprachigen Szene zu vermitteln hat, daß dort tatsächlich ein Theater steht. Mundel ist die einzige bekennende Nicht-Schweizerin unter den Neuberufungen und derzeit Dramaturgin an Frank Castorfs Berliner Volksbühne. In der Basler Baumbauer-Ära inszenierte sie unter anderem eine Adaption von Elfriede Jelineks „Klavierspielerin“ und in der Folge Opernproduktionen in Frankfurt/ Main und bei den Salzburger Festspielen. Mit dem 12 Jahre amtierenden Horst Statkus löst sie Schweizer Urgestein ab, ein neues Regieteam an ihrer Seite soll dafür sorgen, daß sich die Sparten am Luzerner Theater mischen. Zur derzeitigen Atmosphäre in der „Kulturnation“ Schweiz sagt sie: „Es ist reichlich merkwürdig. Man hat wohl bemerkt, daß es so nicht weitergeht, und wagt jetzt, eine verrückte Künstlerin wie Pipilotti Rist zur Leiterin der Schweizer Expo 2001 zu berufen. So etwas wäre zur Zeit nicht mal in Deutschland möglich.“

Sie selbst kann ab Sommer 2000 mit Christoph Marthaler eine Luzern-Züricher Volksbühnen-Entente eröffnen. Dann übernimmt der Dehnungskünstler das Züricher Schauspielhaus und setzt den vorläufigen Schlußpunkt im neuen Schweizer Indendantenkarussell. Im Vorfeld mußte Marthaler zur Kenntnis nehmen, daß man seiner Künstlerpersönlichkeit die Leitung eines Theaters eigentlich nicht zutraut. Dem widerspricht Werner Düggelin. Im Gegenteil, Marthaler sei doch ein Spätzünder, dann aber derart schnell hochgehievt worden, so daß er unter ungeheurem Erfolgsdruck stehe. Und ist nicht genau das eine Situation, fragt er, in der Marthaler sich schnell verbrauchen könne, so daß die neue Züricher Schauspiel-Intendanz genau zum richtigen Zeitpunkt für ihn komme? Düggelin plädiert für Theatermenschen, die für Erneuerung stehen, insofern hätte er auch für den bevorstehenden Wechsel am Züricher Theater Neumarkt im Sommer 1999 einen anderen Vorschlag gehabt. Dort wird das Erfolgsduo Hesse/Müller durch das Duo Crescentia Dünsser/Otto Kukla aus Stuttgart ersetzt. Nichts gegen Dünsser/Kukla, die er nicht kenne, aber Christoph Schlingensief wäre doch was gewesen, meint er.