Der Wandel der Bilder

■ Helmut Kohl sieht plötzlich aus wie ein ganz normaler Verlierer

Jetzt muß Helmut Kohl schon Zweifel an Naturgesetzen ausräumen. Er wolle die Union weiterhin als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl führen, sagte er gestern. „Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.“ Vor ein paar Monaten hätte der Kanzler eine Frage nach seiner Kandidatur nicht einmal ignoriert, so selbstverständlich wäre die Antwort gewesen. Man muß auch nicht jeden Tag sagen, daß der Regen von oben nach unten fällt. Aber die Zeiten ändern sich. Gerhard Schröder hat in Niedersachsen gewonnen, und plötzlich ist Helmut Kohl angeschlagen und verunsichert – vorsichtig formuliert.

Gewiß, das Ende der Ära Kohl ist schon oft ausgerufen worden. Das macht einen Teil seiner Stärke aus: die Gewißheit, daß alles schon mal dagewesen ist und daß er, der Kanzler, alles überlebt hat. Aber irgendwann ist immer das erste Mal. Die SPD ist so stark wie lange nicht mehr, vor allem aber bieten die Sozialdemokraten etwas an, womit die CDU nicht klarkommt: einen Kanzlerkandidaten, der genauso ist wie Helmut Kohl. Nur besser.

Schröder schlägt Kohl mit dessen eigenen Waffen. Er vermittelt einer verunsicherten Gesellschaft vor allem – Vertrauen. Bisher wurde diese Fähigkeit nur dem Kanzler höchstpersönlich zugeschrieben. Er war der Fels in der Brandung! Aber neben dem neuen Medienstar – Schröder ist frisch, Schröder ist dynamisch, Schröder ist modern – sieht Kohl alt aus. Er wirkt wie die Personifizierung des verfetteten Landes, das er für das nächste Jahrtausend fit machen will. Zum ersten Mal seit 1990 hat Kohl, die historische Figur, keine Gewalt mehr über das öffentliche Bild von sich selbst. Er sieht plötzlich aus wie ein ganz normaler Verlierer.

Über diesen Wandel der Bilder könnte man glatt vergessen, daß Schröder ebensowenig das 21.Jahrhundert symbolisiert wie Kohl. Auch der SPD-Spitzenmann weiß nicht mit der Aussicht dauerhaft schwindenden Wohlstands umzugehen, er hat keine Antwort auf die Frage, wie unter diesen Umständen soziale Gerechtigkeit herzustellen ist. Aber mit Schröder wird der Wechsel in Bonn zum Wert an sich. Daran kommt die CDU nicht mehr vorbei. Ihre letzte Chance besteht vielleicht darin, daß nicht alle, die einen Wechsel wollen, auch Rot-Grün wollen. Schwarz ist der Wechsel – das könnte das Motto einer neuen CDU-Taktik sein. Nur einer stört dabei: Helmut Kohl. Jens König

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