■ Wenn die Deutschtürken mehr Anerkennung wollen, müssen sie ihre Rolle als Vasallen Ankaras aufgeben und kritikfähig werden
: Die Krise der Lobbyisten

Mesut Yilmaz ist kein Choleriker. Wenn der türkische Ministerpräsident die Bonner Außenpolitik angreift, indem er sie durch seine Begriffswahl mit der Außenpolitik des Dritten Reiches in Verbindung bringt, gibt er auch ein Signal an die Türken in Deutschland. Die Bundesrepublik soll vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte diskreditiert werden. Die Polemik gegen Deutschland soll von den Problemen der Türkei ablenken, mit denen die jetzige Regierung ebensowenig fertig wird wie die vorangegangenen.

Yilmaz kann sich sicher sein, daß der überwiegende Teil der türkischen Bevölkerung Deutschlands den außenpolitischen Ansichten Ankaras folgt. Die fremdenfeindliche Grundstimmung in Deutschland hat unter der deutschtürkischen Bevölkerung zu einer aggressiven Haltung gegenüber europäischen, speziell deutschen Regierungspositionen geführt. In der gegenwärtigen Krise zwischen Europa und der Türkei wird nicht die Politik des türkischen Staates hinterfragt, sondern Europa und die Politik der EU. Statt sich einer reinigenden Selbstkritik zu unterziehen, fühlt man sich überwiegend als Opfer einer europäischen Machtpolitik gegenüber Kleinasien, deren Wurzeln angeblich bis zu den Nazis und zu den Türkenkriegen im Mittelalter zurückreichen. Sicher läßt die Türkeipolitik der Europäischen Union vieles zu wünschen übrig. Sie war lange Zeit heuchlerisch – und ist es noch immer. Die Schuld an der gegenwärtigen Krise allerdings allein auf Deutschland zu schieben, ist eine allzu bequeme Haltung, die zu einer Vertiefung der europäisch- türkischen Krise führen wird.

In Europa leben rund dreieinhalb Millionen Türken, mehr als zwei Millionen in Deutschland. Immer mehr von ihnen lassen sich einbürgern – dazu ermuntert vom türkischen Staat, trotz der gespannten europäisch-türkischen Beziehungen. Das ist jedoch kein Widerspruch. Ankara betrachtet die Auslandstürken als Vasallen, die durch ihre Wurzeln auf immer und ewig mit der ehemaligen Heimat verbunden bleiben. Der türkische Staat setzt auf den treuen, von klein auf anerzogenen Patriotismus und auf das Phänomen, daß einem in der Ferne die Heimat besonders nahe ist. Nur so ist es zu erklären, daß die Menschenrechtsverletzungen und die Korruptionsaffären in der Türkei bei den Auslandstürken auf weitaus weniger Protest und Ablehnung stoßen als im Lande selbst.

Kritik am türkischen Staat wird von vielen in Deutschland lebenden Türken ganz allgemein als Kritik an den Türken zurückgewiesen. Die Kritiker müssen sich anhören, sie seien Rassisten – ein Vorwurf, hinter dem man sich gut verstecken kann und der in Deutschland immer wirkt, sind doch die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte im Umgang mit Minderheiten alles andere als unbefangen. Die Folge: Türken in Deutschland und Deutsche haben erhebliche Kommunikationsprobleme. Die deutschen Türken definieren sich dabei als die Ausgegrenzten, die anderen, die Mißverstandenen; die, die nicht dazugehören. Sie erwarten, daß die Deutschen sich vor jeder Kritik an ihnen und ihrem Herkunftsland hüten. Nur die Böswilligen hacken auf beiden herum. Diese scheinbar bequeme Opferrolle, die die deutschen Türken freiwillig oder unfreiwillig einnehmen, ist zugleich eine unbequeme, denn sowohl Sympathien als auch die Antipathien, die dem Sonderling entgegengebracht werden, haben wenig mit ihm selbst zu tun. Sie entwachsen den Empfindungen der Betrachter – und irgendwann wird jeder Sonderling ausgesondert.

Die Türken in Deutschland klagen über zuwenig Anerkennung. Doch wenn sie mehr Anerkennung wollen, müssen sie ihre Rolle als Vasallen der Türkei aufgeben. Scharfe und bittere Kritik tut not. Die Türkei befindet sich seit Jahren in einem gesellschaftspolitischen Tief, das sich in einem extremen Rechts- und Werteverfall äußert. Was aber schwerer wiegt, ist die inzwischen vorherrschende negative Stimmung, die das Land, aber auch dessen Freunde und Verbündete erfaßt hat. Diese Stimmung führt zu einer phlegmatischen Haltung. Nach aktuellen Umfragen glauben 85 Prozent der Türken nicht an Besserung, über 60 Prozent befürchten gar eine Verschlechterung der Lage. Nach dem Zerfall des Ostblocks gehört die Türkei zu den wenigen Ländern auf der Welt, die noch immer eine offizielle Staatsdoktrin haben – den Kemalismus. Auch wenn der Staatsgründer Kemal Atatürk Modernist war und seine Doktrin der Moderne verpflichtet bleibt – der Kemalismus als Staatsdoktrin verhindert den Aufbau einer pluralistischen türkischen Gesellschaft. Der Staat verliert mehr und mehr seine Neutralität gegenüber den weltanschaulichen Überzeugungen seiner Bürger. Aus diesem Grund gelten alle offiziellen Bezeugungen der türkischen Regierungen, ihr Land sei demokratisch und rechtsstaatlich, nur auf dem Papier.

Jüngst wurden in der Istanbuler Universität Kleidervorschriften für Studenten und Studentinnen erlassen – neben Kopftuchträgerinnen dürfen nun auch keine Bartträger und Langhaarige mehr in die Universität. Daraufhin protestierten mehr als zehntausend Studenten gegen diesen Erlaß. Die türkischen Politiker versuchen zu beschwichtigen; doch der Begriff Reform wird lediglich klein geschrieben. Diese Strategie der halbherzigen Schritte führt das Land jeden Tag näher an den Abgrund. Die Verantwortlichen in der Türkei setzen auf den blinden Patriotismus ihrer Bürger. Doch blinder Patriotismus ist eine chronische Krankheit, die selten vor dem Tod des Patienten geheilt werden kann.

Unter den deutschen Türken sollte jetzt eine freisinnige Debatte über das Verhältnis zur Türkei und zur türkischen Politik geführt werden. Zumindest ein Teil von ihnen, diejenigen nämlich, die überzeugte Demokraten sind, müßten gegenüber ihrem Herkunftsland eine längst überfällige eigene Haltung finden. Erst eine solche eigenständige Positionsbestimmung wird sie als mündige Bürger ausweisen, deren Integration problemlos wäre. Eine Integration von Menschen aber, die nichts anderes sind als hörige Untertanen eines anderen Staates, kann und darf es in Deutschland – einem pluralistischen Rechtsstaat – nicht geben.

Bewahren sich die deutschen Türken ihre unkritische, patriotisch blinde Haltung gegenüber ihrer „alten“ Heimat, vermuten sie auch weiter hinter jeder Kritik eine armenisch-griechische Verschwörung, so werden sie in Deutschland immer öfter zwischen die Fronten geraten. Und zwischen den Fronten ist man immer am einsamsten. Zafer Șenocak