Noch eine Tür, noch eine Geschichte

■ Ehemals Luftschutzbunker, jetzt Abstellraum, abenteuerlicher Ort und Fundgrube: In seinem Keller ist zu spüren, daß das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe aus allen Nähten platzt

Bevor wir in den Keller hinabsteigen, halten wir noch einmal inne. Denn als sei der Keller der Eingang zur Hölle und sie selbst die Torwächterin, ist das Büro von Margit Tabel-Gerster neben die steinernen Stufen, die nach unten führen, geklebt. Und Frau Tabel-Gerster waltet ihres Amtes, in der freundlich-vorsichtigen Art, wie sie Pressesprecherinnen eigen zu sein pflegt.

„Es wäre schön“, meint Frau Tabel-Gerster, „wenn aus dem Artikel herauskommen könnte, daß das Museum für Kunst und Gewerbe aus allen Nähten platzt.“ Keine Sorge, es platzt, es platzt. Und das nicht erst seit kurzem, sondern eigentlich schon von Anfang an. Immer mehr breitete es sich im Verlauf seiner mittlerweile 118jährigen Geschichte in dem Gebäude neben dem Hauptbahnhof aus, das es zunächst mit einer Gewerbeschule, einer Schule für Bauhandwerker sowie einer Realschule teilen mußte. 1975 war die letzte Klasse der letzten Schule aus dem Gebäude vertrieben, und jetzt, 1995, drängt das Museum über den prächtigen gelben Bau hinaus. Sponsoren für einen Erweiterungsbau werden gesucht, und Frau Tabel-Gerster meint: Wer weiß? Vielleicht findet sich ja ein Geldgeber aufgrund dieses Artikels.

Alsdenn, Sponsoren: Sponsert! Und, dies abgetan, hinab in den Keller, den wir zu besichtigen und über den wir zu schreiben uns vorgenommen haben.

Das heißt, so richtig in die Kellergewölbe geht es immer noch nicht. Zunächst holen wir Herrn Klaus Hummitzsch in einer Art Vorkeller, seiner Werkstatt, ab. Herr Hummitzsch ist der Möbelrestaurator des Museums, und seine Werkstatt liegt zwar tatsächlich auf einer Ebene mit dem Untergeschoß, nur daß es trotzdem hell und lichtdurchflutet ist. Große Fenster öffnen sich zum Innenhof. Bäume stehen davor, man fühlt sich, als würde man auf einen altertümlichen Marktplatz blicken.

Herrn Hummitzsch' Werkstatt scheint übrigens tatsächlich aus allen Nähten zu platzen. Randvoll ist sie mit Werkzeugen und Arbeitstischen – Zahnarztbeistelltische, weil die sich gut in der Höhe verstellen lassen –, mit Truhen und vor allem mit kleineren, kleinen und kleinsten Holzteilchen, die Herr Hummitzsch auseinandergenommen hat, säubern und reparieren und dermaleinst wieder zusammensetzen wird. Beispielsweise zu einem Virginal von Cellistini, einem der nur neun Instrumente, die der Meister vor 500 Jahren baute, das im Besitz des Museums befindliche Anno 1594. Der Klaviervorläufer liegt in Einzelteilen auf diversen Tischen der Werkstatt ausgebreitet. Wie lange Herr Hummitzsch wohl braucht, um daraus wieder eine Einheit zu machen? „Dies Jahr“, sagt Herr Hummitzsch, „wird es mit Sicherheit nichts mehr.“

So, und jetzt geht es wirklich in den Keller. Herr Hummitzsch schließt diverse schwere Türen auf und setzt gerade an zu erklären, daß der Teil des Untergeschosses, den wir gleich sehen werden, im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzräumlichkeiten diente, als wir hinter uns tänzelnde Schritte hören. Es ist Herr Alexander Pilipczuk. Er ist für die Bibliothek des Museums für Kunst und Gewerbe zuständig und möchte uns darauf aufmerksam machen, daß selbige aus allen Nähten platzt. Tatsächlich stoßen wir mehrmals auf unserer Kellertour auf moderne graue Stahlregale, in denen alte Bücher, Kataloge und Zeitschriften, von denen wir noch nie gehört haben, stehen. Bestände, die, wie Herr Pilipczuk auf seine überaus charmante und etwas schüchterne Art zu verstehen gibt, aus Platzmangel aus den eigentlichen Bibliotheksräumen ausgelagert werden mußten.

Während wir auf riesige, in Leder eingebundene Folianten schauen, müssen wir an Filmdramaturgien denken. Auch bei Abenteuerstreifen ist es so, daß sich in der ersten Hälfte des Films die Mannschaft zusammenfindet, die dann in der zweiten Hälfte allerlei Abenteuer zu bestehen hat. Unsere Mannschaft – die sich, dies nebenbei, wirklich mit „Herr Hummitzsch“, „Herr Pilipczuk“ und „Frau Tabel-Gerster“ anredet („Wir sind ein seriöses Institut“, sagt Frau Tabel-Gerster, man kann sich aber auch entfernt an Mister Brown, Mister Red usw. aus Tarantinos Reservoir Dogs erinnert fühlen) – ist jetzt beisammen, und so geht die kleine Karawane – bestehend aus dem Schreiber, dem Fotografen, der Pressefrau, dem Restaurator und dem Bibliothekar – durch lange Gänge und staubige Räume den Entdeckungsabenteuern entgegen, die dieser Keller eröffnet.

„Das nimmt ja gar kein Ende“, ruft der Fotograf schon, als es gerade erst begonnen hat. Und er hat recht. Viel, sehr viel gibt es zu entdecken. Ganze Räume, die bis zur Decke mit alten Stühlen vollgestellt sind, Kisten voller Muschelschalen und Tausende von Keramikscherben beispielsweise. Zunächst aber muß Herr Hummitzsch erklären, wie das mit den Luftschutzräumen war.

Es war folgendermaßen: Im Zweiten Weltkrieg führte direkt von den Bahnsteigen des nahen Hauptbahnhofs ein unterirdischer Gang bis zu den Räumlichkeiten, in denen wir uns gerade befinden. Deren Deckenkonstruktion war verstärkt worden – die quer verlaufenden Metallstreben verknappen noch immer die Raumhöhe –, und an den Mauern hat man mit fluoreszierender Farbe Fluchtwege angezeigt – die Übermalungen sind noch immer an den Wänden zu erkennen. Hierhin haben sich damals die Menschen geflüchtet. Und sie hatten Glück: Das Museumsgebäude hatte, während rundum alles in Schutt und Asche lag, keinen einzigen Bombentreffer abgekriegt.

Nicht so viel Glück hatten die Exponate, die, während die Menschen aus Angst vor dem Krieg in das Gebäude hineinströmten, aus derselben Angst aus dem Gebäude ausgelagert worden waren. Bereits 1939 waren die schönsten Ausstellungsstücke vorsorglich auf das Gebiet der späteren DDR in Sicherheit gebracht worden. Erst 1988 kehrten sie, oft gänzlich ruiniert, zurück, ein neues Kulturabkommen mit der DDR-Regierung hatte dafür gesorgt. Jetzt stehen die Möbel – beziehungsweise das, was von ihnen übrig ist – im Keller herum. Der Blick von Herrn Hummitzsch bekommt für einen Moment eine besorgte Beimischung: „Manche von diesen Sachen werden wir wohl nie wieder hinkriegen“, sagt er und zeigt auf ein an der Wand lehnendes Stück Holz, das einst zu einer seltenen gotischen Truhe gehörte.

Was es alles zu sehen gibt. Den Rest dieses Artikels könnten wir mit simplen Aufzählungen füllen. Mit seiner sanften, aber bestimmten Art fällt Herrn Pilipczuk immer noch ein Raum ein, den anzusehen sich lohnt: „Da hinten, die alten Öfen, die sind doch auch interessant, nicht.“ Selbst Frau Tabel-Gerster hatte bislang längst nicht alles gesehen, weshalb sich ihre Augen weiten und wir vorsorglich noch einmal darauf hinweisen wollen, daß das Museum für Kunst und Gewerbe aus den Nähten platzt. Selbst der Aufenthaltsraum für die Putzfrauen mußte im Kellergeschoß untergebracht werden. Der Fotograf betritt ihn neugierig, kommt aber schnell wieder zurück: „Einen schönen guten Tag, die Damen.“ Die Damen saßen beim Kaffee.

Helle, gerade renovierte Räume. Räume, in denen seit Jahren nicht mehr Staub gewischt wurde. Kleine Stapel mit Tropenhölzern, darunter das gelbe Amarello-Holz oder Zypresse, von der ein Kubikmeter, wie Herr Hummitzsch erläutert, 22.000 Mark kostet. Stühle. Noch mehr Stühle. Ein ganzer Raum voller Stühle quer durch die Stile und Jahrhunderte. Scherben von alten norddeutschen mit Kacheln verzierten Öfen, etwa die des, so ein Schild, „Ofens von Lawinsky aus Neuengamme“, der sich seit 1911 im Museum befindet. Schränke, wie von Christo in Plastik verpackt. Altertümliche Museumsvitrinen, die selbst längst museumsreif anmuten. Und so weiter einen riesigen Keller lang. Dies sind die Abenteuer, die man hier erleben kann: immer noch eine Tür, die sich öffnet, immer noch eine Ecke, um die sich spähen läßt, immer noch eine Geschichte, die Herrn Hummitzsch oder Herrn Pilipczuk zu einer der vielen Einzelheiten einfällt.

„Das Museum für Kunst und Gewerbe“, schreibt der Baedeker, „ist eines der führenden Museen dieser Art in Europa.“ Es gilt, liebe Reiseführer-Redaktion, zu ergänzen: mit einem hochspannenden, einem überaus interessanten, einem Stöber- und Entdeckungs- und Wunderkeller. Und noch eins wird hier unten überdeutlich: Das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe platzt aus allen Nähten. Sagten wir das bereits?

Dirk Knipphals/ Fotos: Markus Scholz