Unsichtbares sichtbar machen

■ taz-Serie Grenzgänger, Teil 5: Siegfried Saerberg führt Sehende über die Grenze zum Nicht-Sehen Von Gabriele Wittmann

Der Mann ist wirklich schwer zu erreichen. Immer ist Siegfried Saerberg mit Projekten beschäftigt, meistens sind es mehrere gleichzeitig: Er verdunkelt Kirchen in Köln, organisiert „Blackouts“ in Hamburg – Happenings, bei denen die sehenden Zuschauer Musik und Zauberei im Dunklen erfahren. Nebenbei ist er noch Wissenschaftler, Buchautor und Flamencogitarrist. In Hamburg ist er nicht mehr zu erwischen, also muß ich in Köln anrufen. „Schade eigentlich, daß wir nicht von Angesicht zu Angesicht sprechen können“, begrüße ich ihn und bin sofort peinlich berührt wegen des Fettnäpfchens – Siegfried Saerberg ist blind. Mein Gast am anderen Ende der Leitung lacht sich kaputt. Noch oft während des Gespräches wird er auflachen, sich über die Situationen immer wieder amüsieren, während er quirlig von seinen Abenteuern erzählt.

Zum Beispiel von seiner ersten Reise alleine. Für seine Magisterarbeit im Fach Soziologie hatte er die Idee, über Blinde auf Reisen zu schreiben. Sein Mentor war begeistert und ermutigte ihn, alleine loszufahren. Aus den Berichten entstand später auf Drängen vieler Freunde das Buch „Blinde auf Reisen“.

Gesagt, getan: Siegfried Saerberg fliegt für zwei Wochen in Urlaub. Wohin soll es gehen? Auf die Sprache ist er als Blinder angewiesen, Spanisch spricht er am besten. Also heißt das Ziel: Gran Canaria. Das Fliegen ist aufregend, aber problemlos. „Im Grunde genommen sind alle Fluggäste von der Konzeption von vornherein ein bißchen behindert. Da fall ich gar nicht auf.“ Wie meint er das nun? Siegfried Saerberg lacht sich schlapp: „Na ja, das Verhältnis der sozialen Beziehungen, Besatzung und Passagier, ist ein Verhältnis von Nicht-Behinderten zu Behinderten. Eigentlich eine typisch patriarchalische Konstellation: Der Captain ist der Chef, dann kommen die Lehnsleute, also die Stewardessen, und dann kommen die kleinen Bauern, die Passagiere.“

Da es eine Neckermann-Reise ist, geht „die Behindertenstruktur gleich weiter“: Der Leiter weiß, wo es langgeht, und alle tappen hinterher. Stimmenwirrwarr, Autotüren klappern, und Siegfried Saerberg weiß: aha, Taxi. Er ruft „Taxi“, und ein Auto kommt. Und wenn das mal nicht klappt? Er lacht: „Dann spielst du den Blinden: drehst dich fünfmal um die eigene Achse, dann weiß es jeder.“

Bei jeder passenden Gelegenheit zückt er den Walkman und dokumentiert seine Erlebnisse, nimmt auch live einige Gespräche auf. Nächster Schritt: Wie geht's zum Meer? Fragen, Fragen, Fragen. Das größte Problem ist der Badestrand. Von der Promenade bis zum Sand kommt er ohne Probleme. Aber dann von Strand bis zum Wasser ist es „einfach Scheiße“: „Die Leute liegen am Badestrand völlig chaotisch rum: Da sind Liegestühle und ausgebreitete Decken, und die Leute bewegen sich ja oft nicht, sondern die liegen nur. Das ist erstmal von der räumlichen Aufteilung chaotisch. Und wenn man sich aufs Hören verlassen will, ist das schlecht mitzukriegen, weil die sich nicht bewegen. Weil Bewegung macht Geräusche, und wenn das Geräusch nicht da ist, dann kriegst du das ja oft nicht mit.“ Siegfried hebt seine Stimme mit der mir inzwischen vertrauten Selbstironie: „Dann stolperst du über zehn Liegestühle, reißt tausend Sonnenschirme um, Sonnenbadende werden erschlagen oder vom Stock aufgespießt...“, wir biegen uns vor Lachen. Wieder beruhigt, erzählt er von einem anderen Problem: Die Badesachen wiederfinden. Vorausschauend muß er einen Badegast bitten, laut zu rufen, wenn er vom Wasser zurückkommt – vielleicht würde er seine Tasche sonst nie mehr finden.

Siegfried Saerberg war nicht immer blind. Als er drei Jahre alt ist, stellt ein Arzt fest, daß er „retinitis pigmentosa“ hat, eine Augenkrankheit, die allmählich die Licht- und Farbrezeptoren auf der Netzhaut befällt. Er schafft die Schule und das Abitur, doch mitten im Studium merkt er, daß er „eigentlich gar nichts mehr sieht.“ Also besorgt er sich einen Blindenstock und bringt sich die Blindenschrift bei, wie immer zuerst auf eigene Faust. Er schmeißt sein Jura-Studium und studiert, was ihn wirklich interessiert: Philosophie und Soziologie. Er promoviert über die Kommunikation zwischen Blinden und Sehenden. Was ihn daran interessiert? „In wieweit der Mensch mit seiner Orientierung nicht die Welt im Geist entwirft, sondern mittendrin ist in der Welt und mit ihre eine Einheit bildet.“

Diese Erfahrung der Einheit ist es, die ihn immer wieder auf Reisen gehen läßt und in unzählige Projekte treibt. Siegfried Saerberg will in die Umwelt eintauchen: „Ich habe manchmal den Eindruck, daß die meisten Leute die Welt so betrachten, als ob sie eine Mattscheibe wär. Wie auf der Busreise in Spanien: Sie sitzen an der Scheibe und gucken sich die Welt an wie im Fernseher zu Hause.“

Teil 6: Ein Drogenfahnder über alltägliche Arbeit und außergewöhnliche Probleme, am Donnerstag, 10. August