Kein Hering hinter Plexiglas

■ Wie überleben HamburgerInnen eigentlich ohne das Büdchen an der Ecke, fragt sich und uns verwundert die rheinische Göre Heike Haarhoff

Unangemeldet und zu nachtschlafender Zeit – für sonntägliche Verhältnisse – klingelten sie Sturm und verlangten nach Sekt und Frühstück: „Na, ist uns die Überraschung gelungen?“ Gäste, wie sie nicht willkommener sein können. Doch der Kühlschrank ist leer.

Aber es gibt ja zum Glück „das Büdchen um die Ecke“, das sich in so manch diffiziler Situation als letzte Rettung erwiesen hat. Hat nämlich auch sonntags und spätabends auf, immer alles im Angebot und guckt nicht schräg, wenn es seine Hauptkundschaft auch zu den merkwürdigsten Zeiten nach Mehl, Tabak, Sauerkirschen, Bier, Katzenfutter, Fernseh-Zeitschriften oder Hering in Tomatensauce gelüstet: Einfach so lange auf die Schelle drücken, bis der Besitzer des meist winzigen Pavillons hinter der Plexiglasscheibe auftaucht.

Dieses Basiswissen wird jeder rheinischen Göre und jedem westfälischen Kerlchen im Land der „Büdchen, Kioske und Trinkhallen“ (je nach regionaler Färbung) zwischen Köln und Dortmund mit auf den Weg gegeben. Wenn der aber irgendwann mehr oder minder zufällig nach Hamburg führt, nützt die beste Sozialisation nichts mehr: Versorgungs- und überlebenstechnisch muß das Kind umdenken lernen.

Denn die „Weltoffenheit“ der „nordeuropäischen Metropole“ reicht leider nicht so weit, den Zugereisten ein wenig Heimatgefühl zu vermitteln: Das Büdchen kennt der Hamburger nicht. Und kann deshalb auch gar nicht nachvollziehen, was uns so fehlt: „Warum gehen Sie denn nicht vorher einkaufen, wenn Sie doch wissen, daß die Geschäfte sonntags geschlossen sind?“ zeigt Wirtschaftsbehörden-Sprecher Wolfgang Becker wenig Mitgefühl. Wenn ihm so was mal, aber wirklich nur ganz selten, passiere (na klar: der Mann lebt seit 20 Jahren in Hamburg), gehe er eben essen.

Aber darum dreht es sich ja nicht. An der Bude wird kein fürstliches Menü besorgt, sondern das, was spontan immer dann fehlt, wenn der Ladenschluß keine Gnade kennt. Eine Tüte H-Milch, ein schwabbeliges Toastbrot oder „für zwei Mark Gemischtes“ (kurz für: bunte Weingummi-Prachtmischung). Klar ist das auch in Hamburg außerhalb der Geschäftszeiten zu kriegen; aber nur an Tankstellen, Bahnhofshallen und sonstigen unwirtlichen Plätzen. Oder auf dem Kiez, denn dort gilt die XYZ-Verordnung, die LadeninhaberInnen (fast) absolute Freiheit gewährt: Sonntags können hier sogar Hifi- und Video-Grundbedürfnisse befriedigt werden. „Daß es Kioske in NRW gibt, hier aber nicht, kann eigentlich nicht am Ladenschluß liegen“, vermutet Becker. Der sei nämlich bundesweit einheitlich.

Wahrscheinlich geht den nordischen Geistern einfach der Sinn für die Bude und ihre Funktion als sozialer Treffpunkt ab: Eine nach Benzin stinkende Tankstelle an einer Hamburger Hauptverkehrsstraße ist eben kein geeigneter Ort, an dem sich der typische Budengänger – den Bierbauch unter Breitrippen-Unterhemd und Hosenträger gequetscht – zu einem netten Pläuschchen einfindet.

Doch irgendwie scheinen ein paar HanseatInnen, die sich schon mal in Gefilde südöstlich von Bremen wagten, zu überlegen, ob ihnen während der langen Jahre ohne Kiosk ein Stück Kultur entgangen ist. Und das wollen sie jetzt auf Teufel komm raus nachholen: In der Innenstadt schießen plötzlich „Wurst-Pavillons“ aus dem Boden. Das Angebot ist nicht vielversprechender als der Name.

Aber der gute Wille zählt. Und mit ein bißchen Glück werden ein paar Zugezogene von Rhein und Ruhr bald die Marktlücke entdecken und „den Gang zur Bude“ dem Hamburger als exotisches Einkaufserlebnis schmackhaft machen.