Ganz normales Unternehmen

■ Die Hamburger Werkstatt für Behinderte hat sich zu einem professionellen, modern ausgestatteten Betrieb gemausert Von Marlene Reimers

Irgendwo im damaligen Hamburger Arbeitsamt an den Großen Bleichen standen nach dem 1. Weltkrieg zwei Säcke mit „Flicken von Militärzeug“. Sie sollten das erste Arbeitsmaterial der vom Arbeitsamt unterhaltenen „Hamburger Werkstätten für Erwerbsbeschränkte“ (Hawee) sein, deren sechs Beschäftigte daraus „weiche Hausschuhe“ herstellten und ausgediente Armeetornister zu Schulranzen umarbeiteten. Das war vor genau 75 Jahren.

Heute heißt das Unternehmen Hamburger Werkstatt GmbH – Werkstatt für Behinderte (hw) und beschäftigt ungefähr 630 überwiegend geistig behinderte WerkstattmitarbeiterInnen. Darüber hinaus gibt es 220 tariflich Angestellte, die sich um die Verwaltung sowie um die psychosoziale und medizinische Betreuung der Beschäftigten während der Arbeitszeit kümmern. Das 75jährige Jubiläum feierten in dieser Woche denn auch nicht nur die MitarbeiterInnen mit Tanz und Erlebnisständen auf dem Betriebsgelände. Bernhard Jagoda, Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, und Dr. Horst Cramer vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, waren eigens angereist, um den Geburtstag von einer der ältesten Behinderten-Einrichtungen Deutschlands gebührend zu würdigen.

Dietrich Anders, Geschäftsführer der Hamburger Werkstatt, betont den zukunftsorientierten Anspruch der hw. „Wir sind ein Unternehmen wie jedes andere auch.“ Die in den hw Beschäftigten möchte er nicht „Behinderte“ nennen. „Unsere Werkstattmitarbeiter sind Menschen, die nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden können.“

25 Prozent der Kosten werden erwirtschaftet

„Erwerbsbeschränkte“ waren in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur von Geburt an Körperbehinderte und Opfer von Arbeitsunfällen, sondern auch eine große Zahl von Kriegsinvaliden. Der fortschrittliche Gedanke, diesen Menschen die Möglichkeit zur Arbeit zu geben, stieß damals angesichts hoher Arbeitslosenzahlen nicht auf ungeteilte Begeisterung. Von Seiten des Handwerks hagelte es herbe Kritik; insbesondere die Bürsten- und Schuhmacher fürchteten unliebsame Konkurrenz durch die Werkstätten. Ein von der Bürgerschaft eingesetzter Prüfungsausschuß befand jedoch zugunsten des Projekts, so daß dieses 1924 in eine stadteigene gemeinnützige GmbH umgewandelt werden konnte. Es sollte fortan nach kaufmännischen Grundsätzen gearbeitet werden.

Das ist bis heute so. „Unsere Produktion deckt immerhin 25 Prozent der laufenden Kosten, d.h. Arbeitsmaterial und Löhne“, erläutert Anders. Ganz selbst tragen könne sich die Werkstatt wegen der notwendigen umfassenden Betreuung der MitarbeiterInnen aber nicht. Träger der Einrichtung – eine von vier in Hamburg mit insgesamt 2400 Werkstattplätzen – sind das Berufsförderungswerk Hamburg, die Arbeiterwohlfahrt, der Verein für Behindertenhilfe e.V. und die Hamburger Stiftung für Rehabilitation und Integration.

Daß die Beschäftigten nach wie vor wenig verdienen – zur Zeit durchschnittlich 410 Mark monatlich zuzüglich Kranken- und Rentenversicherung auf Basis eines fiktiven Einkommens –, und zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen sind, ist für Dietrich Anders, der auch Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte ist, mehr als bedauerlich. Ziel müsse sein, bundesweit WerkstattmitarbeiterInnen von Sozialhilfe unabhängig zu machen und ihnen statt dessen direkt angemessenen Lohn zu zahlen. Aber „leider wurden diese Ansätze aus der kürzlich vorgelegten BSHG-Novelle wieder gestrichen“, kritisiert der hw-Geschäftsführer.

Heute arbeiten auf rund 27.000 Quadratmetern Grundstücksfläche im Meiendorfer Mühlenweg und einer Außenstelle in der Hochallee etwa gleich viele Männer wie Frauen mit geistigen (85 Prozent) und Lernbehinderungen (15 Prozent). Ungefähr 33 Prozent der Beschäftigten sind mehrfach, also z.B. auch körperlich oder psychisch behindert. Wartezeiten auf einen Werkstattplatz gibt es zur Zeit nicht. JedeR neue MitarbeiterIn durchläuft eine zweijährige Trainingsphase in einer eigens dafür eingerichteten Abteilung, die zur anschließenden Übernahme in den Arbeitsbereich befähigt und unter Umständen auch den Weg in Anlernverhältnisse in der freien Wirtschaft eröffnet. 101 WerkstattmitarbeiterInnen konnten in den vergangenen 15 Jahren auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden.

Aus der einstigen „geschützten Werkstatt“ ist ein professionell arbeitendes, modern ausgestattetes Unternehmen mit einem Jahresumsatz von zuletzt 7,5 Millionen Mark geworden, das auf dem freien Markt ernstgenommen wird. In Tischlerei, Näherei, Metall- und Elektromontage, Verpackung, Kunststoff- und Papierverarbeitung, Küchen- und EDV-Service werden sowohl Auftrags- als auch Eigenprodukte und -dienstleistungen angeboten und auch ohne Zwischenhandel selbst vermarktet.

Das Entdecken von Marktlücken ist eine der Stärken des Unternehmens. „Es gibt eigentlich nichts, das wir nicht können“, beschreibt Dietrich Anders die Aufgeschlossenheit auch für ungewöhnliche Aufträge und Ideen. So haben sich die hw inzwischen zum „Marktführer auf dem Gebiet von behindertengerechten Spezialeinbauküchen“ gemausert. Darüber hinaus bieten sie zum Beispiel einen Gemüseputz-Service für Großküchen, während in anderen Abteilungen auch mal ein größerer Posten beschädigter Keramikvasen repariert oder importierte Fahrräder für den Weiterverkauf montiert werden.

Ganz ungebrochen ist die positive Entwicklung seit den Anfangsjahren nicht. Wenig wisse man, bedauert Dietrich Anders, über die Jahre des Nationalsozialismus; das hauseigene Archiv ende 1933. Ein Umstand, der angesichts der berüchtigten Dokumentierungsakribie der Nazis zumindest verwundert. Bekannt ist, daß man seinerzeit die Kapazitäten der arbeitenden – damals noch ausschließlich körperlich – Erwerbsbeschränkten für die Wehrmachtsproduktion einsetzte, während gleichzeitig Fürsorgezuwendungen gekürzt und Disziplinie-rungsmaßnahmen verschärft wurden. Der hw-Jubiläumsbroschüre ist diese Zeit nur wenige Zeilen wert: „Von den rund 200 Werkstatt-Mitarbeitern in den 20er Jahren überlebten nur wenige. Bei Kriegsende waren in den Hawee nur noch 35 Erwerbsbeschränkte beschäftigt“, heißt es dort lapidar.