Gleichermaßen inspiriert von allem

■ Bohemien, Dichter, Patriarch: Die Staatsbibliothek widmet Richard Dehmel eine Ausstellung

Einen Richard-Dehmel-Weg gibt es in fast jeder deutschen Stadt. Vielleicht ist der Name des vor 75 Jahren verstorbenen Kaiserzeit-Dichters von daher noch einigen Menschen geläufig. Und vielleicht wird der Name mit dem vagen Gefühl verbunden, daß es sich ja wohl um jemand Wichtigen handeln muß. Damit ist für die meisten aber auch schon Schluß. Wer könnte etwa den Titel eines seiner Gedichte nennen?

Bei der Vorbereitung ihrer Richard-Dehmel-Ausstellung, die von heute an in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek zu sehen ist, stießen die Studenten vom Dehmel-Team selbst in des Meisters langjährigem Wohnort Blankenese auf völliges Desinteresse. Auch eine Fragebogenaktion mit 200 Europaparlamentariern zur europäischen Relevanz des Poeten blieb ohne Ergebnis. Und dabei zählte der 1863 geborene Dehmel doch zu seinen Lebzeiten zu den gefeierten Dichterfürsten des Landes. Richard Strauss und Arnold Schönberg vertonten seine Verse. Gedichte wie „Der Arbeitsmann“ und „Beichtgang“ fanden über Anthologien und Zeitschriftenabdrucke ein weites Publikum.

Und auch heute noch kann Dehmel ein zumindest historisches Interesse beanspruchen. Es liegt vor allem darin, daß die künstlerischen, geistigen und gesellschaftlichen Tendenzen der wilhelminischen Epoche in seinem umfangreichen ×uvre genauso wie in seiner persönlichen Lebensgestaltung ihren Niederschlag finden. Symbolismus und Esoterik, Naturmystik und schwülstige Erotik, Krieg und Mode: Alles inspirierte ihn gleichermaßen.

Die Verquickung von Werk und Leben durch ein ganzheitliches Kunstideal, das einen neuen, seiner Zwänge und Fesseln befreiten Menschen anstrebte, läßt sich in der kleinen, originell gestalteten Ausstellung anhand von reichhaltigem Material aus Dehmels Nachlaß, der zu den Beständen der Staatsbibliothek gehört, anschaulich nachvollziehen. Gemälde und Fotografien, Manuskripte und Zeitungsausschnitte zeigen Dehmel als provozierenden Bohemien, als begeisterten Kriegsfreiwilligen, als bürgerlichen Patriarchen. Jeder dieser Persönlichkeitsaspekte wird durch emphatisch-wortprächtige Gedichte ins Universelle gesteigert und trägt so zur Verdeutlichung des Lebensgefühls in einer Zeit bei, in der die alten Werte fragwürdig geworden waren und das Gefühl der Notwendigkeit einer umfassenden gesellschaftlichen Neuerung zur In-spiration verschiedenster künstlerischer Strömungen wurde.

Wer die Harmoniesuche dieser Künstlerseele nachvollziehen möchte, kann dies noch bis zum 30. September im Erdgeschoß der Bibliothek tun. Zur Ausstellung ist ein liebevoll aufgemachtes Begleitbuch zum Preis von 25 Mark erhältlich. Jörg Königsdorf