Faszination des Androgynen

Sie ist umwerfend und der große Star der Lesbenszene: Als Transgender-Aktivistin besinnt sich die amerikanische Autorin Leslie Feinberg auf eine Identität fern der starren Mann-Frau-Kategorien  ■ Von Silke Mertins

Durch die Menge geht ein Raunen. „Da ist sie!“ Leslie Feinberg bahnt sich einen Weg durch den überfüllten Veranstaltungsraum in Hamburg-Altona. Die Atmosphäre ist aufgeladen wie vor einem Popkonzert. Es fehlt nicht viel und das Publikum skandiert „Leslie, Leslie!“ In dunkelgrauem Anzug, hellem Hemd und dezent gemusterter Krawatte tritt die Autorin des Kultbuches „Stone Butch Blues“ auf die Bühne. In der deutschen Übersetzung heißt es anheimelnd: „Träume in den erwachenden Morgen“.

Dann sitzt sie auf der Bühne, breitschultrig und breitbeinig, und läßt sich von ihrer erregten Fangemeinde betrachten. Diese Augen! Dieser Blick! – sie ist umwerfend, sie ist hinreißend, sie ist ein Star. Ob in Hamburg, Berlin, Bremen oder Kiel: Die kultivierte Strenge und kritische Zurückhaltung der lesbischen Community in Deutschland ist dahin, wenn die amerikanische Bestsellerautorin zu einer Lesung erscheint. Jede einzelne hängt an ihren Lippen. In einer Mischung aus Jiddisch und Deutsch begrüßt Feinberg die in Scharen herbeigeströmten Lesben. Die Herzen fliegen ihr zu. Sie nimmt ihr Buch zur Hand. Im Saal ist es mucksmäuschenstill.

Leslie Feinberg hat die Szene aus ihrem Buch ausgesucht, als Romanheldin Jess Goldberg sich von den beiden Kindern ihrer Kollegin verabschieden muß. Denn Jess will abtauchen. Sie kann das Leben als „Butch“, als maskuline und deshalb leicht identifizierbare Lesbe, in den bedrückenden 60er Jahren in den USA nicht länger ertragen. Sie entschließt sich, männliche Hormone zu nehmen, sich die Brüste amputieren zu lassen. Sie will als Mann durchgehen. Aber sie fühlt sich „nicht als Mann, der im Körper einer Frau eingesperrt ist. Ich fühl' mich nur eingesperrt“, läßt Feinberg ihre Protagonistin sagen.

Es geht nicht um Transsexualität, sondern um „Transgender“, Menschen, die die gesellschaftlich zementierten Grenzen des „sozialen Geschlechts“ überschreiten. Feinberg möchte mal „er“ und mal „sie“ genannt werden; sie sieht sich als „s/he“.

Während die Tunten immer ein selbstverständlicher Teil der Schwulenbewegung waren, ignorierte die feministische Lesbenszene ihre „Butches“ – zu deutsch „Kesse Väter“ – jahrelang. Sie waren den Frauenbewegten zu männlich. Wie, so fragte frau sich entrüstet, kann eine Lesbe sich kleiden und geben wie Mann, also mit dem Bösen schlechthin, dem Symbol patriarchaler Unterdrückung paktieren? Wie kann sie das eigene Geschlecht derart verraten, das frau mit dem Zelebrieren der Menstruation und dem kollektiven Inspizieren der Vagina gerade zu neuer Bedeutung verhelfen wollte? Mehr als dezente Androgynität wurde nicht geduldet.

Im Zweifelsfall schloß frau die „Transgenders“, wie sie nun auch in Deutschland genannt werden, einfach von Veranstaltungen, Gruppen und Organisationen aus. Begründung: Zutritt nur für Frauen. Die „butches“ und ihre „femmes“ wurden mitsamt ihrer Erotik und Freude am Spiel mit den Geschlechterrollen vor die Tür der feministischen Bewegung gesetzt.

Dort blieben sie, bis Leslie Feinberg kam und die Tür eintrat. Und plötzlich entsteht neben dem Bild vom kleinen Jungen, der in Muttis Kleidung im elterlichen Schlafzimmer erwischt wird, auch das des kleinen Mädchens, das mit zitternden Händen die väterlichen Anzüge anprobiert und sich im Krawatten-Binden übt. So eine ist Leslie Feinberg. Sie gehört, wie auch die Heldin ihres stark autobiographisch geprägten Romans, zu den Lesben, die in schwierigen Zeiten nicht mal eben in die heterosexuelle Frauenrolle flüchten können. Niemand würde es ihnen abnehmen.

Eindringlich, aber ohne Pathos, schildert Feinberg die Gewalt und Erniedrigung, die Transgenders wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren durchmachen mußten. Wer ohne drei „weibliche“ Kleidungsstücke erwischt wurde, machte sich in den USA strafbar. Für Polizisten waren sie Freiwild. Dennoch ist der Roman mehr als ein Zeitdokument. Feinberg läßt sich zum Beispiel nicht dazu hinreißen, die Mutter ihrer Protagonistin Jess, die wie sie selbst aus einer jüdischen Arbeiterfamilie stammt, zu einer jiddischen Mamme zu verklären. Im Gegenteil, die kleine Jess wird zunächst aus Desinteresse und Überforderung der Nachbarin, einer Native American, überlassen, bis die Eltern irgendwann meinen, daß das so richtig auch wieder nicht sein kann, und dem Kind fortan den Umgang verbieten. Als Heranwachsende landet Jess mit dem Einverständnis ihrer Eltern in der Psychiatrie. Als sie mit 16 Jahren ausreißt, sucht niemand nach ihr.

Jess Goldberg ist nicht Leslie Feinberg“, sagt die Autorin, „man kann nicht seine Lebensgeschichte aufschreiben und nur ein paar Straßennamen ändern.“ In der „Workers World Party“, in der die Marxistin seit 25 Jahren aktiv ist, habe sie „ein Zuhause gehabt, das Jess nie hatte“. Sie könne selbst kaum ertragen, wie einsam ihre Romanfigur sei. „Ich würde ihr am liebsten sagen: Komm doch in unsere Organisation.“

Nach der Lesung rollt eine Welle der Zuneigung auf Feinberg zu. Die für gewöhnlich so zugeknöpfte und oftmals arg fremdelnde deutsche Lesbenszene trägt ihre Emotionen plötzlich auf der Zunge. „Wie bist du so stark geworden?“ will eine wissen. „Ich bewundere dich“, sagt eine andere. Feinbergs Buch, ihre Geschichte und ihr warmherziger Charme haben einen Dammbruch ausgelöst. War die ebenfalls Anzüge bevorzugende Blues-Sängerin Marla Glen eine musikalische Offenbarung, ist Leslie Feinberg eine literarische Erleuchtung. Und plötzlich dürfen auch alle anderen exkommunizierten Grenzgängerinnen wieder zu Familienfesten eingeladen werden.

Feinberg macht es ihren Zuhörerinnen leicht. Kein Vorwurf kommt über ihre Lippen. Wird das Wort an sie gerichtet, betrachtet sie die Fragestellerin mit einer Aufmerksamkeit, als gebe es in diesem Augenblick nur sie beide auf der Welt. „Das ist eine sehr gute Frage“, sagt sie dann. Feinberg bedankt sich für die „Wärme und Herzlichkeit“, mit der sie aufgenommen wurde. Tosender Applaus. „Es gibt viele Wege, ein Mann oder eine Frau zu sein“, sagt Feinberg. Die Bücher gehen weg wie warme Semmeln. Der kleine Berliner Verlag Krug & Schadenberg druckt bereits die zweite Auflage. Feinberg signiert. Beim Rausgehen sagt eine Frau: „Das war der schönste Tag in meinem Leben.“

Träume in den erwachenden Morgen. Leslie Feinberg. Berlin 1996. Krug & Schadenberg, 467 Seiten, 48 Mark