Eine Frage der Ehre

In Rußland häufen sich Prozesse wegen „Ehrabschneidung“ und „Verletzung der Würde“. Kläger sind meist Funktionäre, Beklagte die Medien  ■ Von Alexei Simonow

Im Jahre 1995 wurden vor russischen Gerichten 3.500 Anklagen wegen Verletzung von „Ehre und Würde“ erhoben. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, daß es 1996 weniger sein werden: 1990 kamen 1.140, 1994 schon 1.793 Fälle vor Gericht. Das scheint mehr als paradox. Worauf beruht in Zeiten unvermindert anhaltenden Wachstums von Armut, Bürokratie und gesellschaftlicher Unruhe in Rußland dieses neue Selbstbewußtsein unserer Bürger? Wo doch die Worte selbst alle Bedeutung verloren haben – bis zu dem Punkt, daß die „Ehre“ des Amtes nur noch negative Konnotationen hat und „Würde“ (dostoinstvo) fast ausschließlich bei finanziellen Transaktionen beschworen wird – warum also wurden diese Tugenden die letzten Bastionen, für die die Russen bereit sind, vor Gericht zu ziehen? Sind wir Zeugen einer letzten Schlacht um schwindende moralische Werte? Wer sind diese braven Krieger, die so nach Gerechtigkeit dürsten? Und wer hat sie beleidigt?

Das Gefühl persönlicher Ehre ist in unserem Land schon lange verschwunden, und der Verlust der Würde läßt niemanden mehr erröten. Es wird schamlos gelogen, selbst vom Staatsoberhaupt, vom Parlament und von den kommunalen Verwaltungen; das kostet keine Wählerstimmen, vielmehr heißt es anerkennend: „Na, das hat er mal wieder hingekriegt!“

Als die Glasnost-Stiftung 1993 mit ihrer Beobachtung von Einschüchterungsversuchen gegen Presse und Journalisten begann, befaßten wir uns nicht mit Prozessen gegen Medien. Als Verteidiger der Pressefreiheit empfanden wir es nicht als unsere Aufgabe, die Anklagen gegen sie zu prüfen. Doch uns wurde bald klar, daß Prozesse gegen Medien von denselben Kräften angestrengt werden, die an ihrer Knebelung interessiert sind, und wir nahmen die Fälle als Verletzung der Pressefreiheit in unser Register auf.

1996 nannten wir unser Handbuch deshalb auch „Konflikte mit den Medien“; frühere Ausgaben hießen „Verfolgungen“ (1993/94) und „Gesetzesbrüche“ (1995). Das Handbuch 1996 verzeichnet 415 Verletzungen des Mediengesetzes. 65 Prozent davon sind kriminelle Übergriffe auf Journalisten und Redaktionen, Behinderung ihrer Arbeit, Beschränkung des Zugangs zu Informationen, Bedrohung der Unabhängigkeit usw. In 35 Prozent der Fälle jedoch wurden die Medien selbst angeklagt. Wir haben 138 derartige Fälle verzeichnet – und das sind längst nicht alle, denn unsere Korrespondenten arbeiten lediglich in 10 von 89 Regionen der Russischen Föderation. In 71 Prozent der Fälle lautete die Anklage auf Ehrabschneidung, Rufmord, Verletzung der Würde, Diffamierung und persönliche Beleidigung. 1995 stieg der Anteil solcher Anklagen auf 15 Prozent aller registrierten Fälle von Angriffen auf die Medien. Und obwohl die Medien 1996 entschieden vorsichtiger geworden waren, stiegen die Verurteilungen von 60 auf 70 Prozent.

Rund 40 Prozent aller Fälle, in denen die Medien als Kläger auftraten, wurden durch außergerichtliche Vergleiche beigelegt; dagegen endeten 97 Prozent der Fälle, in denen die Medien die Beklagten waren, vor Gericht. Mit anderen Worten: Sobald die Medien versuchen, ihre Rechte einzuklagen, zeigen sich unsere rostigen Gesetzesmühlen in all ihrer Langsamkeit. Wenn es aber darum geht, den „Schreibern eins auszuwischen“, funktioniert die Maschinerie wie geschmiert!

Die da in der Verteidigung ihrer Ehre und Würde so nach Gerechtigkeit dürsten, sind in der Regel die, die uns regieren, über uns zu Gericht sitzen und die wir gewählt haben. Sie klagen zehnmal häufiger als wir einfachen Bürger, ihre Ehre und Würde sind 100mal häufiger bedroht als unsere.

Selbstverständlich sind die Medien nicht immer völlig schuldlos. Ihre oft einseitige und parteiische Berichterstattung läßt oft viel zu wünschen übrig. Das journalistische Handwerk wird schlecht beherrscht, und häufig mangelt es den Schreibern an der Fähigkeit, Fakten unwiderlegbar zu präsentieren. Zur Auflagensteigerung verkaufen Redaktionen wenig sensationelle Nachrichten mit sensationellen Schlagzeilen. Außerdem sind die Medien extrem politisiert: Bis zu 80 Prozent eines Blattes oder des Programms eines Senders sind für die Interessen ihrer Besitzer oder Sponsoren reserviert.

Journalisten sind keine Rechtsexperten, und Redaktionen haben in der Regel kein Geld für eine anwaltliche Beratung, ob ein Artikel eventuell zu einer Klage führen könnte. Es gibt aber auch kaum Anwälte, die sich im Presserecht auskennen – es wird in keiner juristischen Fakultät des Landes gelehrt. Außerdem verfügt der Durchschnittsjournalist über zu wenige Daten und Fakten; kaum einer kennt seine genauen Rechte und Pflichten; und nur wenige Journalisten beherrschen das Russische besser als der Normalbürger. All das ist jedoch kein Grund, sie vor Gericht zu stellen, nichts davon eine Rechtfertigung dafür, was den Medien im Namen von Ehre und Würde angetan wird.

Politiker, Funktionär oder Abgeordneter zu werden bedeutet überall, sich der öffentlichen Kritik auszusetzen. Die einzige Zeitung der Kalmücken-Republik wagte zu schreiben, daß die Präsidentenwahl der alten sowjetischen Formel folge, etwa so, als hätte Gott Eva vor Adam hingestellt und gesagt: Wähle dein Weib! Die Zeitung wurde deshalb zum Volksfeind erklärt und durch Schlägertrupps des einzigen Präsidentschaftskandidaten fast vernichtet. In einem anderen Fall knöpfte sich ein Staatsanwalt sich einen Journalisten vor, der es gewagt hatte, die Streiche des Verteidigungsministers zu kommentieren. Das Urteil lautete auf ein Jahr „Besserung durch Arbeit“ wegen „Verletzung der Würde“. Ein Jahr später war der Minister kein Minister mehr, die Beleidigung keine Beleidigung, und das Revisionsgericht kassierte das Urteil.

Man könnte viele Beispiele nennen, wobei die Anzahl der Fälle nicht das eigentliche Problem ist. Aber die Errungenschaften unserer zarten „Demokratie“ werden gegen sich selbst gekehrt, und wir verlieren dadurch einen ihrer wenigen Gewinne – die Pressefreiheit. Diese Prozesse zur Verteidigung von „Ehre und Würde“ sind eine der wirkungsvollsten Waffen, zu alten Zeiten zurückzukehren.

Ein Grund für diese Verfahren liegt in einem gesellschaftlichen Mangel an finanzieller, moralischer und politischer Verantwortung. Nach der Zahlung einiger Steuerpfennige fühlt sich jeder berechtigt, horrende Schadensersatzforderungen zu stellen. Die Hinterlegung einer Kaution von nur zehn Prozent des geforderten Schadensersatzes würde die Zahl der tapferen Ritter der Wahrheit dramatisch reduzieren – ebenso wie ihre Forderungen. Daß Richter in der Regel ein paar Nullen streichen, hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun – ihnen ist lediglich die Gier der Kläger etwas peinlich. Nur in einer Minderheit der Fälle – 30 bis 40 Prozent – geht der Kläger leer aus, ansonsten hat er keinerlei Nachteile. Ihm droht keine moralische Verurteilung, und eine Überprüfung des in einer Sendung oder einem Artikel beschriebenen Mißstands, den er als Rufmord wertete, findet auch niemals statt.

Ein weiterer Beweggrund für solche Prozesse ist simple politische Berechnung. Sobald sich eine Verwaltungsabteilung durch einen Artikel beleidigt fühlt, sorgt die Führung dafür, daß jeder einzelne Beamte zur Verteidigung seiner persönlichen Ehre und Würde gegen die entsprechende Publikation vor Gericht zieht. Angriffe auf die Presse laufen wie vom Fließband – oft führt dabei schon die reine Erwähnung der streitsüchtigen Abteilung vor Gericht. So wurden etwa der Zeitung Pryziv (Der Ruf) in Wladimir im Verlauf der letzten vier Jahre 104 Verfahren angehängt.

Was den freien Zugang zu Informationen betrifft, sitzen die schlimmsten Verletzer der Pressefreiheit in den Reihen der Justiz selbst. Unter eindeutiger Verletzung des Presserechts verbannen Richter Journalisten aus öffentlichen Verhandlungen oder verbieten ihnen die Benutzung von Tonbandgeräten. Hinzu kommt, daß viele der Gerichtsentscheidungen in Zivil- bzw. in Strafrechtsverfahren milde gesagt angreifbar sind. Die beiden häufigsten Fehler sind die Zuerkennung von Schadensersatz für „moralische Schäden“ an Organisationen und Verwaltungen sowie die vom Gesetz ausdrücklich ausgeschlossene Praxis, Journalisten für die Richtigkeit von Informationen verantwortlich zu machen, die bereits öffentlich sind.

Der übertriebene Sinn für persönliche Würde unserer Prominenten verwechselt die Würde des Individuums mit der Würde des Amtes. Ihre gerichtlichen Schritte sind lediglich Versuche, amtliche Vergehen zu vertuschen. Und unsere Justiz ist zu dieser notwendigen Unterscheidung offenbar ebenfalls nicht in der Lage. Wenn sie so weitermacht, wird sie zu einer sehr realen und ständigen Bedrohung für die Freiheit des Wortes werden.

Alexei Simonow ist Vorsitzender der „Stiftung zur Verteidigung von Glasnost“ und Chefredakteur von Dos'e na tsenzuru, der russischen Schwesterausgabe von Index on Censorship