Andernfalls werden sie unsichtbar

■ Erinnern erlaubt: StudentInnen der Uni lassen in einem Buch emigrierte Bremer JüdInnen zu Wort kommen

Es ist einfach nicht zu verhindern. Auch bei großer Anstrengung nicht. Irgendwann werden die Augen feucht, und möglicherweise bildet sich eine Träne und fällt auf Worte wie „otherwise“, „diese Erinnerungen“oder „unbeschreiblich“. Freilich fügen sich die Worte zu Sätzen. Und die Sätze fügen sich zu Briefen, Berichten, Lebensläufen. In einem Buch namens „Man hängt immer zwischen Himmel und Erde ...“sind sie zusammengefaßt. Und sein Untertitel „Jüdische Emigrantinnen und Emigranten (1933-45) aus Bremen berichten“sagt alles, sagt nichts.

„Auf jeden Fall weiß ich, daß meine Eltern und Großeltern und wir Kinder uns durchaus als Deutsche gefühlt haben. Der immer wieder auftauchende Antisemitismus wurde von uns und unseren Freunden bis in die 20er Jahre stets als ein verschwindender Rückfall in finsteres Mittelalter betrachtet. Mein Vater hat selbstverständlich als Landsturmmann im Ersten Weltkrieg gedient, und meine Mutter („Mutti“) hat wie alle Soldatenfrauen recht und schlecht das Familiengeschäft an der Isarstraße weitergeführt und für uns drei kleine Kinder gesorgt.“Lisa Grubel, geborene Markus Cohen.

Wer glaubt, in der Bremensien-Flut hiesiger Verlage würde auch dieses Thema ausführlich gewürdigt, wird von Inge Marßolek eines anderen belehrt. Die Privatdozentin an der Bremer Uni, die das rund 240 Seiten umfassende Buch zusammen mit Wiebke Davids herausgegeben hat, sagt: „Wir wissen sehr wenig über das Schicksal der kleinen Leute.“Eine Dokumentation von EmigrantInnengeschichten gibt es bislang nicht.

„Als die Tochter des Bremer Rabbiners lebte ich bis 1933 wie die meisten Mädchen meines Alters. Ich bin 1926 geboren. Ich unterschied mich wenig von den anderen Schülerinnen, und die Lehrer und andere Schüler machten keinen Unterschied zwischen mir und den anderen Schülern. Wir wohnten am Dobben und hatten nette Nachbarn  ... Der Alltag wurde schwerer und schwerer. Ich ging zur Bäckerei, es war früh abends und das Geschäft war sehr voll. Plötzlich fielen meine Augen auf die Anzeigung ,Juden sind hier unerwünscht'. Ich sah aus wie alle anderen Mädchen meines Alters. Blonde Zöpfe, helle Augen, helle Haut, und ich hätte einfach mein Brot kaufen können. Aber sofort wurde ich unsicher und zog mich langsam zurück.“Elise Aftergut, geborene Aber.

Es war Frauenarbeit, überwiegend. Im Fachbereich Geschichte an der Uni hatte Inge Marßolek ein Seminar zum Thema „Exil der kleinen Leute“angeboten. Damals, vor etwas mehr als zwei Jahren, schlug sie wegen des unzureichenden Quellenmaterials vor, jüdische BremerInnen anzuschreiben, die nach 1933 aus Bremen emigrieren mußten. Sofort wirkten die StudentInnen an dieser „oral history“mit.

„Hin und wieder wurde ich 1937 aufwärts von Kindern als Jude angepöbelt. Doch meine Freunde standen mir immer bei. Das war auf der Straße. In der Schule (Oberrealschule Neustadt; Anm. d. Red.) war der damalige Direktor Dr. Birnbaum sehr streng und verhütete solches Vorkommen! ... Ein Kriegskamerad riet 1938 meinem Vater, schnellstens auszuwandern. Wir bekamen Visa für Peru. Wir konnten noch vor der Kristallnacht auf das Schiff mit ein paar Kistchen. Wir konnten uns natürlich nicht auf die Fremde vorbereiten. Das Schicksal war ungewiss – doch wenn man erst das Leben gerettet hat, dachten wir, wird man schon weitersehen.“Walter Baer

Bei der Adressensuche half Kerstin Meyer vom „Landesamt für Wiedergutmachung“. Sie organisiert seit mehreren Jahren rührig Bremen-Besuche noch lebender EmigrantInnen. Die Namen Abel, Rosenak oder Wiener klingen in dem Buch deshalb vertraut. Einige der befragten BremerInnen, die die Hansestadt ab 1933 vertrieben hat, waren vor oder nach den schriftlichen Interviews wieder hier.

„1959 kehrten mein Mann und ich aus Indien zurück, wo wir ein Jahr verbracht hatten. Ein neues jüdisches Altersheim (in Deutschland) sollte eingeweiht werden, und mein Vater fragte, ob wir ihn vertreten könnten. Wir hielten uns 36 Stunden in Deutschland auf und fuhren ab, so schnell es ging. Lassen Sie mich Ihnen sagen, warum: Deutschland war in jenen Jahren nicht das Land, das es heute ist. Deutsche, die in den 30er Jahren direkt oder indirekt am Nazi-Terror gegen Juden beteiligt waren, lebten in den 50ern noch. Meine Mutter beauftragte mich, in einem bestimmten Laden fehlende Teile für ein Porzellan-Service einzukaufen. Ich sehe aus wie sie. Ich ging in den Laden, und der ältere Besitzer sah mich und wurde blass, weil er mich für meine Mutter hielt. Wir waren beide sehr aufgeregt. Es war Zeit zu gehen, schnell. Es dauerte 30 Jahre, bis ich nach Bremen zurückkehrte.“Rachel Schlesinger, geborene Aber.

Über die Zahl der EmigrantInnen gibt es nur Schätzungen. Von den 1.500 BremerInnen jüdischer Konfession, die Anfang der 30er Jahre in der Hansestadt lebten, sind nach Marßoleks Angaben rund 900 emigriert. Die StudentInnen haben 50 EmigrantInnen angeschrieben und allen die gleichen Fragen gestellt: Nach Erinnerungen an Bremen, nach Fluchtwegen und der Eingewöhnung im Exil. Rund zwei Dutzend Antworten kamen aus aller Welt zurück. 13 dieser Antworten sind im Buch wiedergegeben und um Fotos, Dokumente sowie durch Notizen der StudentInnen ergänzt. Fast alle äußern sich dankbar, über die Erinnerungen berichten zu können. Daß all dies dokumentiert werden konnte, ist den Spenden von Bremer BürgerInnen zu verdanken. Die aber wollen anonym oder – unsichtbar bleiben.

Christoph Köster

„Man hängt immer zwischen Himmel und Erde ...“, Schriftenreihe des Staatsarchivs; zehn Mark. Erhältlich dort und im Buchhandel (ISBN 3-92 57 29-25-9)