■ Nachschlag
: Murks und Wahrheit – Thomas Brussig und Karin Reschke im LCB

Schüchternheit ist ja eine sehr preisenswerte Eigenschaft. Da die ganze Welt sich immerzu in einem unerhört unschüchternen Zustand befindet und den Schüchternen ständig auf das erschütternste weiter zu verschüchtern vermag, gilt es, diesem entschieden Geltung zu verschaffen. Denn der Schüchterne weiß viel mehr von der Welt, als die krakeelende Überzahl, die nur so laut redet, um ihre leeres Schweigen nicht zu hören. Am besten ist's, der Schüchterne schreibt. Da kräht ihm wenigstens nicht ständig einer rein. Thomas Brussig ist ein sehr schüchterner Autor. Er ist noch recht jung und hat vor fast drei Jahren den deutschen Großfeuilletons wie nebenbei mit „Helden wie wir“ den geforderten „Wiedervereinigungsroman“ geliefert. Die Maueröffnung wurde da als protzender Männerwitz präsentiert. Am Donnerstag abend las er im altehrwürdigen Literarischen Colloquium am Wannsee. Und als ihm Sven Arnold in seinen einleitenden Bemerkungen bescheinigte, daß er im Anfangskapitel des Erfolgsromans ganz klar Goethes „Dichtung und Wahrheit“ parodiert sehe, da mußte Thomas Brussig doch ein wenig grinsen.

Zur Zeit arbeitet der 32jährige wohl gerade an einem neuen Roman. Jedenfalls hieß es von den beiden kurzen Prosatexten, die er an diesem Abend las, es seien Kapitel aus seinem neuen Roman. Welche Heldentaten hier vollbracht werden, blieb bei dem kurzen gelesenen Ausschnitt allerdings noch ziemlich im dunkeln. War aber gut anzuhören, was da so verschämt vorgetragen wurde. In größter Kürze kann man es wohl so zusammenfassen: Im ersten Kapitel geht es um „anpassen anpassen anpassen“ und im zweiten um „Revolution! Revolution! Revoultion!“, und der Jungautor im Mittelpunkt führt mit einem Begutachter seines Romanmanuskriptes dieses Gespräch: „Du hängst wohl sehr an Aussagen und diesem Kram?“ – „Ach leck mich, dachte ich.“ – „Die deutlichste Aussage hast du, wenn du einfach erzählst, was wirklich passiert – denn nichts geschieht ohne Grund. Alles andere ist Murks.“

Und: Karin Reschke las auch. Diesen Teil des Abends muß man aber beinahe „Murks“ nennen. Wenn in einer Erzählung so Sachen vorkommen, wie, daß die Erzählerin, als sie Richtung „schlammigem Potsdamer Platz“ aufbrach, vergessen hatte, „feste Schuhe“ anzuziehen und nun fürchtet, nasse Füße zu bekommen, dann kann man ruhig auch mal tüchtig weghören. Thomas Brussig war da auch schon lange gegangen. Konnte ihm wenigstens keiner mehr einschüchternde Fragen stellen. Volker Weidermann