Zehn Jahre nach dem Giftgasangriff auf Halabdscha in Irakisch-Kurdistan sind die Spätfolgen des irakischen Bombardements erheblich: Die Fälle von Leukämie haben sich seit 1990 verdreifacht, jeder zweite leidet an Atemwegserkrankungen, die Z

Zehn Jahre nach dem Giftgasangriff auf Halabdscha in Irakisch-Kurdistan sind die Spätfolgen des irakischen Bombardements erheblich: Die Fälle von Leukämie haben sich seit 1990 verdreifacht, jeder zweite leidet an Atemwegserkrankungen, die Zahl der Fehlgeburten stieg dramatisch.

Der stille Aufschrei der Vergessenen

Rosa, purpurn und blauviolett erheben sich in der Morgendämmerung die Berge über der Ebene von Schahrazur, rechter Hand glitzert die Oberfläche des Derbendikhan-Stausees. Bauern schleppen Säcke mit Schwarzwurzeln und türmen sie auf Holzkarren auf. Am Straßenrand winken Kinder mit Sträußen frischgepflückter Narzissen – Symbol für das kurdische Neujahrsfest, das am 21. März gefeiert wird.

Friedliche Stille liegt über der Kornkammer Irakisch-Kurdistans. Doch durchziehen riesige Erdwälle die fruchtbaren Felder. Hinter ihnen hatten sich die irakischen Panzer jahrelang gegen die Armee des Nachbarlandes eingegraben. Es ist, als sei der Krieg zwischen Irak und Iran (1980 bis 1988) erst gestern zu Ende gegangen.

Am Ortseingang von Halabdscha zeigt ein Mahnmal den Bäcker, der sich schützend über sein sterbendes Kind beugt und mit ihm den Tod findet. Es erinnert an den irakischen Giftgasangriff heute vor genau zehn Jahren. An das Grauen und die Angst, die bis heute gegenwärtig sind. „Hier habe ich damals den ganzen Nachmittag ausgeharrt“, sagt Aram Hawari. Er deutet auf eine kleine, fast unscheinbare Erhebung. „Sieben Flugzeuge waren's. Sie kamen immer wieder, stundenlang.“ Der damals 20jährige Student hatte sich bei Verwandten in Anab Taze im Norden von Halabdscha versteckt, weil sich das Grenzgebiet in den Händen der kurdischen Guerilla befand. Wie viele kurdische Studenten hatte Aram damals den Dienst in der paramilitärischen Volksarmee Iraks verweigert, die zum Schutz von Regierungsgebäuden gegen Angriffe der kurdischen Guerilla eingesetzt wurde. Als Deserteur verlor er den Studienplatz.

In den frühen Morgenstunden des 16. März 1988 begann die irakische Luftwaffe mit der Bombardierung der 60.000 Einwohner zählenden Stadt an der iranischen Grenze. Tags zuvor hatten die geeinten kurdischen Verbände gemeinsam mit iranischen Revolutionswächtern die Stadt eingenommen. „Am Morgen kamen die Iraker mit normalen Flugzeugen“, sagt Aram, der heute als Ingenieur bei einer Hilfsorganisation arbeitet. „Aber am Mittag wurde es dann dunkel, es war, als hätte jemand ein riesiges Feuer angezündet. Ein ekelhafter Gestank breitete sich aus, es roch nach vergammelten Äpfeln und Gemüse.“

Ein irakischer Offizier, der in iranische Kriegsgefangenschaft geriet, berichtete später, daß bei dem Angriff 20 bis 25 Kampfflugzeuge eingesetzt worden seien, die jeweils drei bis vier „Spezialbomben“ abwarfen. Die Sprengköpfe der „Spezialbomben“ waren in der C-Waffen-Fabrik bei Samarra mit Senfgas und Cyanid sowie den Nervengasen VX, Sarin und Tabun aufgefüllt worden.

„Alle rannten wie verrückt aus ihren Häusern“, fährt Aram leise fort. „Eine Frau riß sich vor meinen Augen ihre Kleider vom Leib, Kinder weinten und suchten nach ihren Eltern, ein alter Mann versuchte, seine Schafe und Ziegen aus der Stadt zu treiben. Und dazwischen fielen die Menschen einfach um, überall lagen die Leichen mit schwarzen Gesichtern.“

Bis zum Einbruch der Nacht starben über 3.000 Menschen: Hunderte in den Kellern oder provisorischen Bunkern, die sie zum Schutz vor Luftangriffen gebaut hatten, viele bei dem Versuch, die Hügel bei dem Dorf Anab zu erklimmen. Wahrscheinlich mehr als 2.000 Menschen starben auf der Flucht im Todesstreifen an der schwer verminten Grenze; sie erlagen ihren Verletzungen in iranischen Hospitälern. Das vielgeschmähte Nachbarland bot als einziges den Flüchtlingen Hilfe an, indem es für die Überlebenden noch an der Grenze eine Notversorgung einrichtete. Weil die iranischen Truppen Journalisten in die Stadt ließen, gingen die Bilder der Toten aus Halabdscha um die Welt. Erstmals sah die internationale Öffentlichkeit das wahre Gesicht des vom Westen massiv aufgerüsteten Saddam Hussein. Doch Folgen hatte das nicht.

In der Familie von Arams Onkel hat niemand den Giftgasangriff überlebt. In der Verwandtschaft seines Kollegen Dilér gab es von drei Familien keinen einzigen Überlebenden. Er selbst war an jenem Dienstag nur durch Zufall nicht in der Stadt. Auf dem Friedhof zeigt er auf einen Grabstein. 17 Namen mit Altersangaben stehen darauf, fünf davon sind Kinder. Über 30 Menschen sind in dem Grab bestattet. „Von der Hälfte wissen wir nicht einmal ihre Namen“, sagt Dilér.

Als die Einwohner Halabdschas im Frühjahr 1991 zurückkehrten, lagen in manchen Kellern noch immer Leichen. „Viele mußten wir einfach so begraben, weil man sie nicht mehr identifizieren konnte.“ Die Massengräber außerhalb der Stadt wurden zwar geöffnet, aber sofort wieder geschlossen, weil die Giftkonzentration auch drei Jahre später noch viel zu hoch war. Der Ingenieur Aram meint, das Grundwasser sei bis heute verseucht.

Halabdscha wirkt zehn Jahre nach dem Giftgasangriff noch immer wie eine Geisterstadt. Überall liegen Trümmer und Steine, Eisenstangen ragen wie Speere in die Luft, die Reste der historischen Altstadt mit ihren Lehmhäusern werden vom Regen allmählich weggeschwemmt. Die Hälfte der Geschäfte ist verlassen, wie klaffende Wunden reihen sie sich an der Einkaufsstraße auf. Die berühmten Granatäpfel und Nüsse aus der Gegend gibt es nurmehr in geringen Mengen, Landwirtschaftsexperten schätzen, daß es Jahrzehnte dauern wird, bis die Umweltschäden behoben sind.

„Hier findest du niemanden, der nicht krank ist“, sagt Aram. „Ich kann seitdem nicht mehr richtig atmen.“ Zudem leidet Aram an Hautausschlägen. Untersuchungen des kurdischen Gesundheitsdepartements und internationaler Hilforganisationen haben ergeben, daß sich die Fälle von Leukämie seit 1990 verdreifacht haben, die Zahl der Herzkranken stieg um das Sechsfache, jeder zweite leidet an Atemwegserkrankungen, die Zahl der Fehlgeburten ist in Halabdscha viermal so hoch wie im 70 Kilometer entfernten Sulaimaniya, und die der Krebserkrankungen liegt vier- bis fünfmal über dem Durchschnitt.

„Was hat man uns angetan“, klagt Aram. „Und wer hilft uns jetzt? Alle kamen hierher, aber keiner hat etwas für uns getan.“ Der Wiederaufbau von Halabdscha ist Stückwerk geblieben. Die meisten internationalen Hilfsorganisationen haben nach kurzer Zeit ihre Tätigkeit wieder eingestellt, weil sie für ein derart aufwendiges Programm keine Geldgeber fanden. Bis heute stoßen sie bei den Regierungen jener Länder auf taube Ohren, die den Irak einstmals mit Produktionsanlagen für sein C-Waffen-Programm belieferten. Inga Rogg