Blick ins Auge des Orkans

■ Ein Abenteurer, der sich im Auto anschnallt: Sebastian Junger liest heute aus „Der Sturm“

Romane über das Meer und die Männer, die in Wellentälern und Wasserschluchten ums Überleben kämpfen, stehen in einer langen Tradition. Schon mit Joseph Conrad, Jack London und Herman Melville haben wir ins Auge des Orkans geblickt, aus der Tiefe die aufgerissenen Kiefer des weißen Wales gesehen. Jetzt faucht Sebastian Jungers Der Sturm durch die US-Bestsellerlisten, und man wagt sich nicht in zu tiefe Gewässer, wenn man dem Beau mit dem stechenden Blick einen Platz unter den großen „Wassermännern“der Literatur prophezeit.

Die Story des auf einer wahren Begebenheit beruhenden Romans ist denkbar einfach: Während eines Sturms im Oktober 1991 sinkt der Schwertfisch-Trawler Andrea Gail vor der Küste Neufundlands, und die sechsköpfige Besatzung stirbt in den Fluten. Der Orkan, der das Boot in sein nasses Grab schickt, ist ein perfekter Sturm (The Perfect Storm ist der Originaltitel), der 30 Meter hohe Wellen mit einer Geschwindigkeit von 160 Stundenkilomentern über den Ozean treibt.

Sebastian Junger lebte während der Arbeit an seinem Roman in Gloucester, dem Hafen, aus dem die Andrea Gail zu ihrer letzten Fahrt auslief. Hier sprach er mit den Angehörigen und Seeleuten, die den Sturm überlebten, mit Meteorologen und Rettungsschwimmern. Er lungerte in der Bar „Crow's Nest“herum, in der sich die Seemänner betrinken, bevor sie ihrer Arbeit auf See nachgehen, die seit dem 17. Jahrhundert rund 10.000 Menschen der Stadt das Leben kostete.

So genau wie Herman Melville die Physiognomie des Pottwals beschreibt, so detailliert dokumentiert Junger die Geburt der 30 Meter hohen Wasserberge, die durch die See rollen. Neben wissenschaftliche Erklärungen setzt der Autor Augenzeugenberichte von Menschen, die den Wellen begegnet sind, in deren Schatten die Sonne verschwindet, bevor „die nasse Faust“alles zerschlägt und unter die Oberfläche reißt. Jungers Stil ist über viele Seiten bar jeder Emotion. Dann fokussiert er jedoch die Männer an Bord der Andrea Gail, und man ist bei ihnen, wenn sie im Inneren des Bootes ersticken und „mit offenen Augen und ohne Bewußtsein“durch den gefluteten Schiffsrumpf schweben.

Die Literaturkritik feiert Sebastian Junger als neuen Hemingway, obwohl sein Stil weit mehr dem einer Reportage gleicht. Ähnlich wie der Großwildjäger und Hochseefischer Hemingway aber fühlt sich Junger vom Abenteuer angezogen. Er arbeitete als Korrespondent in den Krisengebieten der Welt, im ehemaligen Jugoslawien und in Afghanistan.

Welche Bedeutung hat die Gefahr für den Autor? „Ich bin kein verrückter Macho, der sich gerne in Gefahr bringt. Risiken gehe ich nur ein, um eine intensive Erfahrung machen zu können. Ansonsten bin ich sehr vorsichtig. Im Auto schnalle ich mich immer an, wenn sie wissen was ich meine“, erklärt Junger im taz-Interview. Bevor er seinen nächsten Roman beginnt, will er wieder als Journalist arbeiten. Durch seinen Ruhm kann er sich die Jobs jetzt aussuchen. „Vor dem Sturm war ich ein erfolgloser Journalist, hinter dem keine große Zeitung stand. Ich glaube, daran lag es, daß die Hinterbliebenen aus Gloucester so offen mit mir über die Männer der Andrea Gail gesprochen haben. Für die war ich just a guy with a notebook.“

York Pijahn

Lesung: 20.30 Uhr, Buchhaus Weiland , im Quarree Wandsbek

Sebastian Junger: „Der Sturm“, Diana Verlag, 317 S., 34 Mark