„Das wirkt natürlich unnatürlich“

Leben in der Bundesliga (XI): Tanzsport ist harte Arbeit, scheinbekokstes Entfernungsgrimassieren und vor allem giftiger Dauerneid auf die bitterböse Konkurrenz  ■ Aus Aachen Bernd Müllender

„Vor und seit und Wechselschritt... Und vor und rück und Wie-ge-schritt“. So ging Tanzen doch, oder? Beim Tanzen in der Bundesliga, Abteilung Lateinformation, quirlen 8 plus 8 Figuren übers Parkett – mit „von oben nach unten drehenden Pirouetten in zwei vierfach scherenden Doppeldiagonalen“, dazu in „basicorientierter Rumba-Technik: Voltas, Linksrollen, Running Promenades, Capa-Aktionen, Twist Turns“. So steht es in der Kür-Choreographie des TSC Schwarz-Gelb Aachen, dem amtierenden Welt- und Europameister.

Bundesligafinale in Aachen. Letzter von sechs Spiel-, besser: Tanztagen. 300 Quadratmeter Edelparkett, leihverlegt in der Schulsporthalle, gleißendes Flutlicht, ein paar Werbeschilder, discolaute Musik, Schinkenbrötchen, Sponsorenkölsch und euphorische 2.000 (eher schick gemachte als schicke) Zuschauer. Acht Teams, je zweimal sechs Minuten Volldampf mit Kombinationen der fünf Lateinklassiker Rumba, Samba, Cha-Cha-Cha, Jive und Paso doble. Zack und Wusch, Schleuder, Dreh, Wumm und Schwumm. Der TSC schließt mit „artistischer Beinrondenaktion der Damen“. Tosender Applaus. Dancing ovations. Optik total: Die Damen sind voluminös zwangsdécolletiert, als latinaartige Femmes fatales hochgetakelt, Perücken überall und riesige falsche Wimpern. Die Herren alle mit schwarzgefärbtem und gegeltem Haar, als gecken- und galanhafte Latin Lover zurechtgestylt. Dann Blicke losschmachten lassen, die Zahnreihen gebleckt, das Fassadenlächeln freigelegt, und das Rudel rast los. Ist das ästhetisch? Ansichtssache.

TSC Aachen und die TSG Bremerhaven sind seit Jahren das Maß der meisten Dinge im Tanzsport weltweit. In der Bundesliga aber führt Düsseldorf Rot-Weiß. Die Ligatabelle dient der Qualifikation – für neue EM- und WM-Titelkämpfe und für das Meisterschaftsturnier im Herbst 1998, das gleichzeitig wieder Saisonauftakt 1999 ist. Kuriose Tanzwelt. „Zugegeben eigenartig“, nennt das TSC- Vizepräsident Ernst Knops (48), ein Bausparkassen-Bezirksdirektor, „sehr fremd, unlogisch, kompliziert und schwer zu vermitteln“.

Edler Tanz – heile Welt? Von wegen: Zwischen Bremerhaven und Aachen herrscht blanker Haß – „seit wir 1990 Bremerhaven erstmals abgeschossen haben“, sagt Knops, „das konnten die nicht haben“. Diese Bremerhavener, deren fürchterlicher Trainer Horst Beer: „So niveaulos, ohne Benehmen.“ Als Bremerhaven 1994 bei der WM nur Dritter wurde, hat Knops beobachtet, „haben die Fußball kennt eh jeder. Die taz- Serie untersucht: Wie lebt es sich in anderen Bundesligen? Zuletzt erschien: Unterwasserrugby am 29. Januar.

doch ihre Bronzemedaillen ins Klo geworfen“. Am Abend werden die Animositäten voll bestätigt.

Unten tanzen die Aachener, oben am Stankett stehen ein paar Bremerhavener mit demonstrativ bornierten Visagen und tuscheln sich gestenreich spöttische Bemerkungen zu. Als sie später selbst dran sind, wird die Musik vom Aachener Veranstalter falsch eingespielt. Das ist wahre Feindschaft. Neid, Mißgunst, Leberwurstdasein. Es war immer so und ist eben so.

Tanzsport ist Knochenjob. Drei- bis viermal pro Woche wird jeweils vier Stunden trainiert. Oft das Wochenende dazu. Die meisten Aktiven sind junge StudentInnen und SchülerInnen. Das Aachener Team ist 21 Jahre im Schnitt. Ältere Zeitgenossen, zumal Berufstätige, hätten für ein solches Extremhobby kaum Zeit. Rund 150 Lateinformationen gibt es im Lande.

Sport? Show? Kunst? Aachens Cheftrainerin Petra Heiduk definiert: „Thematische Idee, Musik und Choreographie sind Kunst. Die gesamte Präsentation ist Sport. Formationstanzen ist nicht sportliche Kunst, sondern kunstvoller Sport.“

Alle sind Vollamateure. 200.000 Mark pro Saison für Reisen, Trainerstab, Musik, opulente Kleidung und tonnenweise Schminke pro Team wollen erst mal refinanziert sein. Fernsehgelder? Minimal, wenn überhaupt. Das DSF hat sich gerade zurückgezogen. Aachens Hauptsponsor, eine Beauty Company mit „hauttypenspezifischer Systemkosmetik“, trägt eine Hälfte des Budgets, der Rest muß vornehmlich durch Showauftritte eingespielt werden. 5.000 Mark Gage sind bei Sportgalas und Konzernfeiern drin. Immerhin 20.000 Mark bleiben bei einem Liga- Event wie am Samstag übrig.

Tanzen ist Wertungssport. Da geht es ungerechter zu als bei jedem olympischen Eiskunstlauf. Kein Sieg, der nicht böse von den Zweiten kommentiert würde. Als Aachen bei der WM 97 in München triumphierte, maulte Bremerhavens Trainer Beer: „Ein eklatantes Fehlurteil.“ Das TSC- Programm sei „bloße Effekthascherei“, zudem 90 Prozent der Ideen geklaut. Bei ihm! „Schlechte Verlierer“, höhnen die Champions zurück: Geklaute Effekthascherei? Vier Wochen später, zum Bundesligastart, wird Aachen nur Dritter. „Ein politisches Urteil“, jammerten sie zickig.

Dennoch, sagt Aachens Ernst Knops, sei Tanzen „wie eine große Familie“. Dabei ist die Heimatpresse praktischerweise adoptiert – Tanzfunktionär Knops darf unter Tarnkürzel selbst lange Artikel schreiben mit Überschriften wie „Einige Richter brauchen wohl Nachhilfe“. Oder werbende Texte wie am Freitag, damit sich seine Halle fülle: „Soviel Fairneß und Begeisterung, die morgen zu erwarten sind, gab es bei keinem der bisherigen Bundesligaturniere.“ Dank solch tempi-dialektischer Lockungslyrik war der Abend tatsächlich ausverkauft.

Doch Aachen wurde wieder nur Dritter, der Todfeind Zweiter. Es gewann erneut Düsseldorf, mit einer weniger hochkompliziert durchstrukturierten Show, dafür erotisch hinreißend, scharf, witzig. Aachens hibbelige Coacheuse Heiduk erklärte sich tief gekränkt: „Vielleicht haben wir die nationalen Wertungsrichter mit unserer Choreographie überfordert.“ Schmallippig steht sie am Ende neben Feindkollege Beer auf dem Parkett. Beide würdigen sich keines Blickes, applaudieren demonstrativ jeweils nur den anderen Teams. Die Nasen hoch.

Der Kampf geht weiter – aber bei der EM dürfen nur Aachens Rivalen ihr starräugiges Entfernungsgrimassieren mit aufgerissenen Mäulern vollführen wie ein luftschnappender Schwarm vollgekokster Fische kurz vor dem Ertrinken. Knops lächelt bei dem Drogen-Vergleich. Das höre man immer mal wieder, aber diese Posen seien antrainiert für die Wertungsrichter weit oben auf den Tribünen. Aber zugegeben: „Je näher man dran ist, desto unnatürlicher wirkt das natürlich.“ Na gut, gehen wir wieder auf Distanz. Bis 2004. Da soll Formationstanz olympisch werden.