Eine unmögliche Beziehung

Die deutsch-französische Freundschaft bildet den Kern Europas, doch unter der glatten Oberfläche einer jahrzehntelang gefestigten Beziehung entdeckt der Philosoph André Glucksmann kulturelle Verwerfungen und intellektuelle Mißverständnisse  ■ Von Ulrike Ackermann

„Nie waren sich Frankreich und Deutschland wirtschaftlich so nahe, und nie standen sie sich kulturell gesehen derart fremd gegenüber... Sie fusionieren ihre Märkte und entwerfen die Einheitswährung. Doch geistig verstehen sie sich nicht“ – dieses Resümee zieht André Glucksmann in seinem neuen Buch.

Der streitbare Philosoph aus Paris stammt aus einer jüdischen Familie, die aus Polen nach Deutschland emigriert war. Die Nazis brachten seinen Vater um, und die Mutter kämpfte in der französischen Résistance. In seinen „unmoralischen Briefen“ über „Das Gute und das Böse“ inszeniert Glucksmann einen fiktiven Dialog zwischen Paris und Berlin, der dem deutsch- französischen Unverhältnis auf die Spur kommen will. Kann das couple franco-allemand als Motor des europäischen Einigungsprozesses ökonomisch und politisch seit 1945 auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken, so ist seine geistige und seine kulturelle Beziehung von Mißverständnissen gekennzeichnet.

Drei Jahrhunderte Geistesgeschichte durchpflügen die beiden fiktiven Briefeschreiber, in der Hoffnung, sich näherzukommen. Nicht um die Zeichnung zweier Nationalcharaktere geht es Glucksmann dabei, sondern um die Spiegelung einer deutsch-französischen Debatte. Sie ist gleichzeitig – so räumt er ein – eine innerfranzösische. In provozierender Manier rührt der französische Philosoph denn auch vornehmlich am deutschen Selbstverständnis und an vertrauten Gewißheiten.

„Hitler bin ich!“ ruft er über den Rhein. Denn „sich fragen, wie Hitler möglich war, heißt, Europa zu befragen, das ihn möglich gemacht hat. Das heißt uns selbst... Diese Blindheit gegenüber dem Bösen außerhalb von uns und in uns, diese unablässige Demonstration durch unsere guten Empfindungen, daß die Teufel nicht existieren, ist das nicht genau das, was Hitler möglich machte, weil von den schönen Seelen nicht vorgesehen und nicht vorstellbar?“

Gerade angesichts des Zivilisationsbruchs von Auschwitz, das das Sinnbild für das „absolut Böse“ geworden ist, kritisiert Glucksmann die deutsche Neigung, diese Erfahrung auszulagern: die Aufarbeitung des Nationalsozialismus sei bis heute mißlungen. Drei Generationen scheiterten daran auf unterschiedlichen Wegen: In der ersten Epoche zwischen 1945 und 1955 hieß es, „Hitler ist die Ausnahme, wir sind die neue Normalität“. Der äußerst erfolgreiche ökonomische Wiederaufbau wurde mit einer gigantischen Verdrängungsleistung bezahlt: Keiner sei dabeigewesen, hörte man allenthalben. Die zweite Epoche zwischen 1965 und 1975 war vom Diskurs der studentenbewegten Söhne und Töchter geprägt. Für diese Generation war die „normale“ Gesellschaft, jenes offizielle „wir“, der verderbte Kern, in dem der Faschismus entsteht. „Gestern breitete er sich aus, vorgestern bereitete er sich vor, und heute lebt er verborgen fort... Die Linke hat umstandslos den Nationalsozialismus aus dem kapitalistischen Hut hervorgeholt. Die Rechte enthüllte bereitwillig Hitler als Sohn Stalins, selbst wenn die Daten dagegen sprechen“, so Glucksmann.

Immer war demnach eine unsichtbare Hand im Spiel, die hinter den Kulissen der Geschichte wirkte: das Kapital, das System oder das Schicksal. Über politisch und existentiell entgegengesetzte Wege gelangten zwei Generationen zum gleichen Schluß: „Nein! Wir haben nichts getan! Die erste leugnet das ,wir‘, die zweite das ,tun‘... Auf die eine oder andere Weise sprechen sie sich von jeglicher Verantwortung frei.“

Aber auch die vom Ehepaar Mitscherlich damals beklagte „Unfähigkeit zu trauern“ verfängt sich – so Glucksmann – in einem Paradox: In der Forderung nach Trauerarbeit um den Nationalsozialismus drücke sich dessen äußerste Monstrosität in ihrer Negation aus. Gerade in dieser Unfähigkeit, nämlich der ewigen Unvollendetheit dieser Trauer, sieht Glucksmann die einzige respektvolle und aufrichtige Ehrung, die den Opfern zuteil werden kann.

Die dritte Epoche der gescheiterten Vergangenheitsbewältigung symbolisiert für Glucksmann der gigantische Erfolg von Goldhagens Buch über „Hitlers willige Vollstrecker“. „Wir haben das größte Verbrechen der Welt begangen“, verkündet nun die dritte Generation. Hinterrücks – so Glucksmann – hat mit dem Bucherfolg auch wieder die These von der Kollektivschuld der Deutschen Einzug gehalten. Aber wo alle schuldig sind, ist es letztlich keiner. Der Pariser Philosoph plädiert demgegenüber – im Sinne Karl Jaspers und Hannah Arendt – für den Begriff der politischen Verantwortung bzw. Mitverantwortung, der sich die Deutschen im Verhältnis zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit nicht entziehen können. „Eine tatsächliche allgemeine Verantwortung in eine unmittelbare kriminelle Schuld umzuwandeln, ermöglicht ein weiteres Mal, die Brücken abzubrechen. Das diabolisierte Deutschland bleibt in der Ausnahme, seinem berühmten ,Sonderweg‘ eingeschlossen... Damit lehrt die deutsche Tragödie niemanden etwas.“ Wenn die Deutschen weiterhin ein nationales Monopol auf das „absolut Böse“ beanspruchen, ist der Blick verstellt auf alle Verbrechen, die nach Auschwitz stattfanden oder noch stattfinden. Darin sieht unser Nachbar aus Paris die größte Gefahr: Gleichgültigkeit kann unversehens in „bestialische Indifferenz“ (so der emigrierte deutschsprachige Dichter Hermann Broch 1945) umschlagen – wie die europäische Geschichte gezeigt hat.

André Glucksmann fordert deshalb: „Das Böse gehört nicht verborgen, nicht verkleidet, nicht unter euphorischen Idealen vergraben, sondern bloßgelegt... Die Europäer benötigen eine gemeinsame Vorstellung von den Hindernissen. Gemeinsam die Widrigkeiten denken zu lernen, setzt ein eher kulturelles als ideologisches Europa voraus, das nicht für das Beste, sondern gegen das Schlimmste geeint ist.“ (S. 398)

André Glucksmann, „Das Gute und das Böse. Ein deutsch-französischer Briefwechsel“; Claassen Verlag, Hildesheim 1998, 418 Seiten, 48 DM