Mein Kleid, das hat drei Ecken

In Paris gingen gestern die Prêt-à-porter-Schauen zu Ende. Sex scheint auf einmal unmodern zu sein. Wohin gehst du, Mode? Die Pariser Modedesigner wußten es auch nicht. Weibliche Erotik, die Brüste wie auf einem Tablett darbietet, hat aber ausgedient  ■ Von Anja Seeliger

Vor einem Jahr war alles noch ganz einfach: In New York und Mailand zeigten Designer minimalistische Kleider, die sich wie verrückt verkauften. Paris hielt dagegen mit den Techniken seiner Haute Couture. Es putzte seine Kleider auf mit Spitzen, Federn, Applikationen, Perlen, Fransen. Wo New Yorker und Mailänder moderne Uniformen boten, zeigten die Pariser „Sex, Poetry, Romance and Glamour“, um es einmal mit John Galliano zu sagen. Diese Strategie funktioniert aus zwei Gründen nicht mehr: einmal wegen des Zusammenbruchs der asiatischen Märkte (siehe Kasten). Die Modehäuser rechnen 1998 in Asien mit einem Umsatzrückgang von 15 bis 20 Prozent. Damit verringern sich die ohnehin nicht sehr üppigen Absatzmöglichkeiten für Kleider, die von Hand mit Tausenden von Perlen bestickt sind. Selbst die Asiaten, die noch Geld haben, möchten das nicht mehr so deutlich zeigen.

Zum anderen wirkte dieser Rückgriff auf den Fundus alter Moden – sei es nun 70er-Jahre-Retro oder Haute-Couture- Techniken aus dem letzten Jahrhundert – mit einem Schlag altmodisch. Dies ist das Jahr, in dem sich alle mit der Frage beschäftigen mußten: Was ist modern? So weitermachen wie bisher jedenfalls nicht. Christian Lacroix zeigte Korsagenkleider aus schwarzem Tüll, über die rote Spitze gelegt war. Goldene, knapp knielange Röcke, die eng über dem Hintern saßen und dann in Godetfalten aufsprangen. Dazu eine Bluse, die über der Brust mit üppigen Spitzenrüschen aufgeplustert war, und darüber dann eine Art Cape mit Toreroschultern, das bis zur Brust reichte und aufwendig mit Pelzstreifen und Perlen besetzt war. Altmodische, lächerliche, rührende Pracht! Rührend vor allem deshalb, weil es scheint, als hätte diese Form weiblicher Erotik, die Brüste wie auf einem Tablett darbietet, endgültig ausgespielt. In die Erde gestampft von ihrem ganz unerotischen männlichen Gegenpart: dem Anzug. Stellt man beide nebeneinander, dann sagt das eine Kleidungsstück: Friß mich, und das andere: Ich will fressen.

Eine untragbare Situation. Das gleiche gilt für Sonia Rykiels Kollektion, die „Pariser Chic“ so dick aufträgt, als wäre er den Models auf die Stirn tätowiert. Männlich geschnittene Anzüge, die mit einem Bikinioberteil kombiniert werden. Die Angst, irgendwie zu männlich auszusehen, steht einer Frau schlecht zu Gesicht, die seit 30 Jahren in der von Männern weitgehend beherrschten Modeszene ihr eigenes Unternehmen erfolgreich leitet.

Die Gegenseite wurde dominiert von einer ganzen Brigade neuer Designer, die sich an der sachlichen Mode, wie sie für Mailand und New York typisch ist, orientierten: Marc Jacobs, 35, für Louis Vuitton, Narciso Rodriguez, 36, für Loewe, Andrew GN für Balmain, Michael Kors für Céline, Cristina Ortiz für Lanvin und Peter Speliopoulos für Cerruti. Auch sie zeigten vor allem am Männeranzug orientierte Kostüme und Anzüge. Aber diese hier wurden vorgeführt ohne „feminine“ Mätzchen. Statt dessen kombinierten sie Sachlichkeit mit Sportswear-Elementen, das heißt mit Bequemlichkeit. So hatte Andrew GN für seine Anzüge einen Wollstoff verwendet, der an einen Jeansstoff erinnerte. Pullover hatten am Saum Tunnelgürtel, wie sie bei Trainingsjacken üblich sind. Alles aus luxuriösen Materialien wie Kaschmir oder Schlangenleder. Marc Jacobs nahm noch einmal den Trapezschnitt auf, der in seiner klaren geometrischen Form als perfektes weibliches Pendant zum umgekehrten Dreieck gelten kann, in das der Anzug den Männerkörper verwandeln soll. Es waren praktische, funktionelle Kleider aus luxuriösen Materialien, die Angestellte und Chefs gleichermaßen aussehen lassen wie ein tadellos funktionierendes Rädchen im Getriebe. Man fragt sich unwillkürlich, wie groß der Schritt ist von dieser Uniformität zu einer Milliarde Chinesen in Maojacken? Noch schlimmer: Die sexuelle Attraktivität ist wie bei der Männerkleidung gleich Null. Sex würde möglicherweise das Getriebe stören.

Gaultier griff zurück auf die fünziger Jahre: Pariser Jazzkeller und Existentialismus. Seinen Anzügen haftete dementsprechend etwas leicht Schlampiges an. Dann gab es lose, leicht ausgestellte Wollkleider, über die weite Pullis getragen wurden, garniert mit Basken- und peruanischen Strickmützen. Es gab schon sehr schöne einzelne Stücke, dennoch war es irgendwie unbefriedigend: Warum gerade die Fünfziger? Warum nicht die dreißiger oder 1890er?

Warum nicht die zwanziger Jahre? Wurde die Moderne nicht in den Zwanzigern erfunden? Abstrakte Malerei, atonale Musik und moderne Architektur – sind wir damit schon fertig? Wie viele Menschen kennen Sie, die lieber Schönberg als Verdi hören?

Die zwanziger Jahre noch einmal aufzugreifen macht Sinn. Drei Designer haben es getan: John Galliano machte daraus eine romantische Theaterinszenierung, Martin Margiela zitierte sie bei Hermès so zurückhaltend, daß ich mir immer noch nicht sicher bin, ob seine an Matrosenblusen erinnernde Jacken vielleicht doch nur hüftkaschierend waren.

Und dann war da noch Chanel. Lagerfeld hatte als einziger Couturier eine Idee. Mit John Gallianos Wechsel zu Dior vor gut eineinhalb Jahren hatte in Paris die Ära der neuen Opulenz begonnen. Seine Haute-Couture-Kollektion vom Januar 1997 bestand aus prachtvoll dekorierten Kleidern, die wie Roben aus dem 19. Jahrhundert daherkamen. Den gleichen Was-kost'-die-Welt-Luxus versuchte er auch der Prêt-à-porter-Mode von Dior zu verleihen. Lagerfeld hielt im selben Jahr dagegen: Seine Haute-Couture-Schau vom Januar 1997 zeigte die schnörkellose Eleganz der Coco Chanel der 20er Jahre. Schwarze Kostüme mit langen Röcken, die zeigten, was Haute Couture auch ist: Maßarbeit. Man sah den Zentimeter, den die Kleider vom Körper entfernt waren. Er ließ Dior wie historischen Tinnef aussehen. Auch in den Prêt-à-porter-Kollektionen ist Lagerfeld dieser Richtung gefolgt. Mit einem Schlag waren fast alle dekorativen Elemente verschwunden – selbst die Goldknöpfe mit den zwei C.

Mit der jetzigen Kollektion folgte er der von japanischen Designern wie Rei Kawakubo und Yohji Yamamoto längst fix und fertig entwickelten Idee, daß modern nicht gleichbedeutend ist mit einfallslos. Und vor allem nicht gleichbedeutend mit Uniform. Auch diese Chanelkollektion erinnerte an die 20er Jahre. Aber mit Retro hatte das nichts zu tun. Eine typische Silhouette der Zwanziger sind die langen, an den Knien leicht aufspringenden Röcke, über die lange Pullover oder Jacken getragen wurden. Lagerfeld erreichte diesen Effekt, indem er den Rock – nichts als ein Viereck – an der Rückseite nur ein Stück zusammenheftete. Unterhalb des Hinterns konnte sich der Stoff frei bewegen, so daß beim Gehen rätselhafterweise genau dieser aufspringende Effekt erreicht wurde. Die Rückseite war von einer zweiten, gerade herabfallenden Bahn bedeckt. Plötzlich macht nicht mehr das Kleid den Körper, sondern der Körper schafft das Kleid.

Wenn die Dekoration und der Rückgriff auf alte Kostüme wegfallen, dann bedeutet modern vielleicht einfach nur: neue Formen zu erfinden. Eine alte Sache wie einen Rock auf neue Art machen. Lagerfeld ist der einzige Designer, der das von den Japanern gelernt hat. Hat es Sex? Ich weiß es auch nicht. Wieviel Sex hat das 21. Jahrhundert?