Deutsche, pathologisch robust

■ „Die frühen Nachkriegsprozesse“: Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme arbeitet die Nazidiktatur weiter wissenschaftlich auf

Lokale Geschichte, wozu? Auch Teil drei der jetzt in der edition temmen erschienenen „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland“konzentriert sich auf die Lager und TäterInnen zwischen Hamburg und Hannover und spart alles zwischen Dachau und Auschwitz aus. Diese eigentlich nicht aus der Sache abzuleitende Regionalisierung bringt im Vergleich zu einem Generalaufwasch die Chance größerer Detailgenauigkeit mit sich und ermöglicht eine gesteigerte sinnliche Präsenz für den Leser vor Ort. Denn Bilder sind noch immer wirkungsvolle Mittel, um das Schwervorstellbare in unsere Köpfe hineinzukriegen.

Doch die Vorzüge der räumlichen Begrenzung spielt die vorliegenden Studie über die Nachkriegsprozesse nach dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal nur sehr bedingt aus. In der Regel wird allgemein Bekanntes aufs Neue durchexerziert. Der Leser erfährt, daß die Deutschen vom Dorfschullehrer bis zum SPD-Abgeordneten Hans Merten wenig begeistert waren von einer juristischen Aufarbeitung der Nazizeit. Letzterer sprach von einer „Diskriminierung der Deutschen“und von einer „Rechtspraxis, deren Grundlage die Rache“sei. Es ist ein Aberwitz, den die Autoren der Studie mit dem wunderbaren Begriff der „pathologischen Robustheit“quittieren. Weiterhin wird man erinnert an das fehlende Unrechtsbewußtsein der Täter, an ihre Verharmlosung der KZ-Greuel, an ihre notorische Berufung auf den sogenannten Befehlsnotstand, an milde Urteile, an das Instrumentalisieren des Antifaschismus in der DDR und an die Meinungsdifferenzen unter den Siegermächten.

Die Studie ortet diesen Versuch praktizierten Völkerrechts der ersten Nachkriegsjahre in der Geschichte, also im mißglückten Abstrafen von Kriegsverbrechen nach dem Ersten Weltkrieg einerseits, im überengagierten „Bewältigen“der DDR-Vergangenheit hier und heute andererseits. Nur allzu gerne zitieren die angenehm parteilichen Autoren ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 1995: Hätte man einst Nazi-Richter an derselben Meßlatte gemessen wie heute DDR-Richter, dann wäre es damals zu vielen Verurteilungen der Verurteiler gekommen. Stattdessen wurde für die circa 40.000 NS-Todesurteile kein Richter je belangt.

Manche Beiträge der Studie ersticken im Positivismus. Es ist immer dann, wenn sie den Tag eines Prozesses datieren, die Zahl der Angeklagten nennen, die Zahl der Verurteilungen und Freisprüche – und doch das politische und menschliche Klima nicht vermitteln können und wollen. Walter Kempowskis O-Ton-Collage „Echolot“hat bewiesen, wie intensiv die Sprache des geschickt plazierten, doch unkommentierten Dokuments von Opfern, Tätern, Rand- und Schlüsselfiguren ist.

Die Studie dagegen geizt mit genauen Akteneinsichten. Noch immer glauben die Autoren, den deutschen Leser fest an der Hand nehmen zu müssen. Wer eindringen will in die Köpfe von Angeklagten, Verteidigern, Prozeßbeobachtern, alliierten und später deutschen Richtern, muß sich sein Material im „Dokumentations“-Teil mühsam zusammentragen. Nicht allzu oft, aber doch manchmal stößt man dabei auf etwas jenseits des Faschismus-in-der-Oberstufe-Grundwissens. Barbara Kern

KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): Die frühen Nachkriegsprozesse, edition temmen 1997, 19.90 Mark