Ein Leben als Leerstelle

■ „Attempts on her life“/„Angriffe auf Anne“: Ein ziemlich gutes Stück des Engländers Martin Crimb in Leipzig und München. Einmal etwas böse verspielt und einmal als Arbeit am Text

Anne ist nichts Menschliches fremd. Sie ist die Geliebte eines Geheimdienstmannes, den sie verachtet. Sie ist Terroristin und immer allein. Sie ist eine aus Verzweiflung verrückt gewordene Frau im Balkankrieg, die die Überreste ihres Kindes in zwei Tüten im Auto herumfährt. Sie ist Physikerin und Reiseleiterin, sie ist jung und alt, arm und reich, hat Familie und keine, bringt sich um oder nicht. Anne also ist alles, weswegen einen Anne nicht weiter zu interessieren braucht. Wenn Anne aber alles ist, dann ist Anne auch nichts wirklich, was als Identifikationsangebot wiederum sofort akzeptiert werden kann.

Zum Ausweichen ist es sowieso zu spät. Man sitzt im Münchener Marstall auf einer Zuschauertribüne, und dicht gegenüber erhebt sich spiegelbildlich eine Spieltribüne, auf der fünf schwarzgekleidete Menschen herumgehen und einen kalt anstarren, während sie Sätze über Anne austauschen. Sie nehmen sich Worte aus dem Mund, sprechen gleichzeitig, und wenn sie einmal nachfragen, dann nur aus Routine. Sie kennen den Text, verknüpfen aber offenbar kein Bild damit, keine Erinnerung, nichts, weswegen ihre Augen in Richtung des Publikums fast hungrig nach Anzeichen fahnden, nach Anzeichen von Anne, von Leben. Dabei bleibt der Blick aber allgemein, wie auf eine glatte Oberfläche gerichtet, einen Spiegel.

„Attempts on her life“, Versuche über ihr Leben, oder eben auch, wie der Titel der deutschen Übersetzung von Falk Richter heißt: „Angriffe auf Anne“ steht auf dem Programm und hatte am letzten Freitag gleich zweimal Premiere. Um 21 Uhr in der Inszenierung von Gerhard Willert im Marstall und zwei Stunden später im Rahmen des „Dschungel L. E.“ genannten Spektakels zeitgenössischer Dramatik in Leipzig unter der Regie von Armin Petras.

Der Anlaß lohnte den Anlauf von gleich zwei Seiten. Denn „Angriffe auf Anne“ ist ein ziemlich gutes Stück. Keine bloß gut gemachte Gebrauchsdramatik der alten britischen Schule, kein Sozialreißer wie Mark Ravenhills „Shoppen & Ficken“. Statt dessen angenehme Offenheit in Thema und Form in einer schnellen, doch insistierenden, apodiktischen Sprache. In Wortschatz und Duktus ist sie geprägt vom Sprechen über Waren, und in größeren und kleineren Kreisen schlingt sie sich in siebzehn Szenen um das Sein und Tun einer mehr als siebzehnfach verschiedenen Anne. Szenenentwürfe gibt es sowenig wie Figuren, nur Spiegelstriche kennzeichnen, daß es überhaupt verschiedene Sprecher gibt.

Martin Crimb, 42, ist Hausautor des Royal Court Theatre in London, wo das neueste Stück letztes Jahr auch uraufgeführt wurde. Er hat mit Anne eine Leerstelle erfunden, ein fehlendes Glied in der Kette, deren Verbleib die Sprecher zu Mutmaßungen nötigt, anhand derer sie selbst kenntlich werden. Mit Rührung über sich selbst erinnert jemand (die Eltern?) daran, daß Anne als Kind doch jede Barbie hatte, die ihr zustand, versichern Wohlstandseuropäer, wie stark sie sich mit dem Elend im vermutlichen Balkankrieg identifizieren. Man merkt es schon: Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft rollt entschlossen heran, aber weil gleichzeitig jede Menge Distanzierungen und Ironisierungen mit im Angebot sind, ist das in dieser Deutlichkeit in Ordnung.

Sonntag in München. Die Vorstellung ist nicht ausverkauft, die Leute drängen sich auf Florian Parbs Zuschauertribüne nicht so, wie sie könnten und vielleicht sollten. Man kann vielmehr die erste Reihe meiden und auch später bequem ausweichen, wenn die fünf Darsteller in Formation von ihrer Spieltribüne herüberkommen, die Leute ansingen oder sich sogar neben sie setzen.

Der Regisseur Gerhard Willert, 41, tastet in seiner Inszenierung das Zwischenmenschliche auf Gesellschaftsebene ab. Ist da irgendwo noch was? Wird am Rande des Konventionellen nicht vielleicht doch das Authentische sichtbar, von dem es im Text beschwörend heißt „Wir sind authentisch / und mit uns identisch / Nicht nur Produzieren als Job / Nicht nur so tun als ob...“. Diese Verse läßt Willert schlagermäßig a cappella singen, wie im überwiegend dunklen Raum überhaupt allerhand gesungen und auch sonst verfremdet wird: Gitarrensounds irrlichtern durch die Lautsprecher, einzelne Buchstaben des großen Schriftzugs MARSTALL leuchten auf, und die hart rhythmisierte Sprache tritt in Dialog mit Blinklichtern oder Flutwellen von Rot oder Blau.

Das alles wirkt ein bißchen wie Geisterstunde, und wie eine verängstigte, dann wieder Mut fassende Gruppe Schloßbesucher treiben auch die Darsteller den Text voran: Silke Buchholz, Henry Meyer, Saskia Petzold, Vasilij Sotke und Christian Wittmann. In Boutiquenschick gehüllt, lassen sie im Laufe des Abends alle Hüllen fallen, um am Ende in weißen T-Shirts und Jeans einen Neuanfang zu versuchen, der nicht gelingt: Auch wenn sie ganz dicht beieinander gekuschelt auf den Tribünenstufen liegen, wenn sie sich berühren oder sich endlich mal ansehen könnten, bleibt ihr Blick kalt und glatt aufs Publikum fixiert, kommen sie nicht voran und von ihrem Thema nicht los: „– Sie arbeitet. – Sie hat gearbeitet. – Sie kann arbeiten. – Sie wird arbeiten. – Sie wird nicht arbeiten. – Was? – Sie wird nicht arbeiten. – Aber sie beherrscht doch ihr Handwerk. – O ja, sie beherrscht ihr Handwerk...“

Zweimal die gute, alte „Was bin ich?“-Frage

Am Tag zuvor in Leipzig war natürlich alles anders. Eine Geste aber findet sich in beiden Arbeiten: ein ins Groteske gezogenes verbindlich-distanziertes Lächeln, das Lächeln einer Showmaster- Assistentin, die kurz davor ist, wahnsinnig zu werden. Saskia Petzold hat es bei Willert in München, und Lisa Martinek hat es bei Petras in Leipzig. Diese Grimasse kurz vor dem Abkippen, die doch kein Innehalten zuläßt, gehört in beiden Inszenierungen zu den anrührendsten, menschlichsten und komischsten Momenten.

Denn auch Armin Petras, 33, kramt natürlich keine Warmherzigkeit hervor, wo es keine gibt – er schon gar nicht –, wenn er auch anders als Willert zu jeder der stark eingestrichenen Szenen mit seinen acht Darstellern eine Geschichte im 70er-Jahre-Ambiente erfindet. Eine Frau auf Gefängnisbesuch. Ein Maklerpaar mit einem Mieter in einem Appartement. Dem Text entgegenlaufende Situationen, teils auch nur grob skizziert, schließlich hat Armin Petras für Leipzig noch zwei andere je eineinhalbstündige Stücke inszeniert.

Am krassesten ist der Unterschied in der ersten Szene, wenn Texte zu hören sind, die auf Annes Anrufbeantworter hinterlassen werden. In München werden sie im Foyer eingespielt, während das Publikum noch auf Einlaß wartet, in Leipzig ertönen sie aus etlichen Anrufbeantwortern, die vor zwei Bahren herabbaumeln (Bühne: Natascha von Steiger), auf denen zwei Frauen im Leichenhemd liegen, die alsbald zu zucken beginnen. Mal mehr, mal weniger böse verspielte Spielszenen bei Petras, ernsthafte Arbeit am Text bei Willert. „Anne“ einmal als Code für Kommunikation überhaupt, das andere Mal als Versuch sinnhaften Sprechens. Zwei gleichermaßen homogene Ensembles gehen der guten, alten „Was bin ich?“-Frage nach, einmal eher Robert-Lembkehaft, das andere Mal aus einem Schaufenster der 90er Jahre von innen auf das angehauchte Glas geschrieben. Petra Kohse