Die revolutionäre Faszination jenseits des Rheins

■ Neidisch schauen Deutsche mitunter auf die französischen Arbeitslosenproteste – zu Unrecht

„Buuoooh“, raunt es aus dem Saal. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Ungläubigkeit reagiert das Publikum im Stuttgarter „Theaterhaus“ auf den Bericht über die Aktionen der Arbeitslosen im Nachbarland. „Da haben die also tatsächlich in Bordeaux einen Handelskammerpräsidenten als Geisel genommen“, vergewissert sich jemand. „Welche strafrechtlichen Folgen hat das denn gehabt?“ hakt er nach.

Arbeitslose und Beschäftigte sind an diesem Sonntag abend zusammengekommen, um über die neue soziale Bewegung zu diskutieren, die Mitte Dezember in Frankreich und Anfang Februar in Deutschland das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat.

„Die Franzosen sind einfach radikaler als wir“, heißt es bewundernd in dem Theatersaal. Jemand erklärt: „Die sind uns mit der Phantasie voraus.“ Andere erinnern an die „traditionelle Sensibilität für soziale Themen“ und an die „68er Bewegung“. Dann beraten die Versammelten über mögliche Aktionen in ihrer Stadt. „Wärt ihr bereit, das Luxusrestaurant Zeppelin zu besetzen?“ fragt ein aus Berlin zugereister Professor die Stuttgarter. Eine einzelne Dame – sie ist Langzeitarbeitslose – antwortet. „Ja, natürlich“, ruft sie in den Saal. Beifall.

Die Begeisterung der Linken für Frankreich ist östlicherseits des Rheins ungebrochen. Das war 1848 nicht anders als 1998. Die militanten Aktionen, die Freude auf der Barrikade – all das scheint aus der Ferne „revolutionär“.

Tatsächlich haben die Arbeitslosen in Arras und Marseille, die im vergangenen Dezember die Zahlstellen von Arbeitsämtern besetzten, Großes geleistet. Sie haben ein Tabuthema zum Politikum gemacht und die bis dato von Bürokraten und Sozialhelfern betreuten devoten Arbeitslosen zu kämpferischen Akteuren gemacht.

In Deutschland, wo Demonstrationen angemeldet werden, wo es Bannmeilen zu beachten gilt und wo strafbare Handlungen gemeinsam mit Anwälten ausgearbeitet werden, verlaufen Proteste anders. Manchmal, wie gerade jetzt bei den Arbeitslosen wieder, kommen sie auch etwas später als in Frankreich. Aber erfolgloser sind sie deswegen noch lange nicht. Zumindest nicht immer. Da ist auch das Problem des Vergleichs aus der Ferne. Kaum hatten am 5. Februar Arbeitslose in Deutschland ihren ersten nationalen Protesttag abgehalten, behaupteten die üblichen Kommentatoren: „Das war ein Flop.“ Warum? Weil es eine disziplinierte Demonstration war? Weil es nicht geknallt hatte? Weil keine Hunderttausende gekommen waren? Oder weil die alte Tante DGB dabei war?

Da haben ein paar Kollegen nicht richtig hingeschaut. In Frankreich waren es am Anfang auch nur ein paar Dutzend, waren auch Gewerkschafter aus den „klassischen“ Gewerkschaften an der Vorbereitung beteiligt, und Medien und Öffentlichkeit haben wochenlang gebraucht, bis sie auf die einzelnen, als „Verzweiflungstaten“ verstandenen Aktionen reagiert haben. Diese Korrespondentin, die ihren ersten Bericht über die Arbeitslosenaktionen zwei Wochen nach deren Beginn verfaßt hat, schließt sich ein.

So weitgehend, wie es sich von östlicherseits des Rheins anhört, sind die Aktionen im übrigen auch gar nicht. „Sicher, das ist viel bunter hier. Viel lauter“, bemerkte einer der neun deutschen Arbeitslosenvertreter, die am vorletzten Samstag zu einer Demonstration nach Paris gereist waren. „Aber mehr Leute als bei uns sind das nicht. Und radikaler sind die Forderungen auch nicht. Schließlich sind 1.500 Franc Leistungserhöhung nicht mehr als 500 Mark.“

Ein wenig mehr Selbstbewußtsein der Deutschen wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Oder, um in der Tradition zu bleibe, ein bißchen mehr „von den Franzosen lernen“. Die versuchen schließlich auch nicht, so zu sein wie ihre deutschen Nachbarn. Und von der Größe der deutschen Aktionstage der Arbeitslosen waren sie beeindruckt. Dorothea Hahn