200.000 demonstrieren für das Recht auf Arbeit

In Paris hat gestern die größte Demonstration der Geschichte Frankreichs die Übergangsregierung und die Republik unterstützt  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Der Platz der Revolution (der bis zum vergangenen Februar „Concorde“ hieß) platzte aus allen Nähten, als sich gestern morgen um 11 Uhr der Zug der citoyens und citoyennes in Bewegung setzte. Bald füllte die Menge die Tuilerien, die ganze Länge der Seine-Quais und den Vorplatz des Rathauses aus, in dem die Übergangsregierung sie erwartete. Überall leuchteten die frisch gebügelten weißen Hemden der Demonstranten und waren ihre kleinen Fähnchen zu sehen – meist in den drei nationalen Farben Frankreichs, gelegentlich auch in Rot. Die Banderolen der Arbeitergesellschaften und -korporationen erinnerten an Forderungen der Februarrevolutionäre: „Recht auf Arbeit“ und „Es lebe die Republik“ war besonders häufig zu lesen. Es war die größte Demonstration, die die Stadt erlebt hat. Mindestens 200.000 Menschen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, waren unterwegs.

Anschläge an den Mauern von Paris hatten sie gestern morgen auf die Straße gerufen. Die citoyens sollten die Übergangsregierung unterstützen und sie zugleich dazu aufrufen, die geplanten Parlamentswahlen und die Wahlen der Offiziere in der neuen Nationalgarde ein paar Wochen zu verschieben, damit sich die Menschen, vor allem die in der Provinz, angemessen auf diese erste Stimmabgabe der französischen Geschichte vorbereiten könnten. Die Demonstration sollte „ruhig und gerecht“ verlaufen, stand auf den Anschlägen. Sie sollte die Stärke der jungen Republik zeigen und zugleich, „daß die Proletarier klüger sind als die Bourgeois und Aristokraten“.

Gerade in den letzten Tagen hatten konterrevolutionäre Kräfte versucht, Verwirrung und Panik zu schaffen. Fabrikanten warfen der Übergangsregierung vor, daß der per Dekret eingeführte Elf-Stunden-Tag „Frankreich ruinieren“ würde. Viele hielten aus Protest immer noch ihre Betriebe geschlossen, und von den Kanzeln der Dorfkirchen hetzten wieder Pfaffen gegen die Revolution.

In Paris hatten am Vortag Soldaten in Uniform gegen die Auflösung ihrer Bataillone demonstriert. In manchen Kabaretts der Hauptstadt riefen Reaktionäre unverholen zum Mord an Mitgliedern der Übergangsregierung auf. An der Börse beschimpften Spekulanten das Volk und seine Übergangsregierung. Anfang der Woche wollte die Gerüchteküche gar wissen, daß Gardisten in das Büro des Innenministers marschiert wären, um ihn – freilich vergeblich – zum Rücktritt zu zwingen.

Derartige Angriffe will das „Volk von Paris“, das gerade erst den König in die Flucht gejagt, die Republik proklamiert und das allgemeine Wahlrecht für alle Männer eingeführt hatte, nicht hinnehmen. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Nicht nur die Arbeitszeitverkürzung, das allgemeine Versammlungsrecht und die völlige Pressefreiheit, sondern auch die neuen Arbeitsplätze in den erst Anfang März eröffneten „Nationalwerkstätten“, die jetzt schon 100.000 Männern und Frauen ein Salär verschaffen, sind gefährdet.

„Wir werden die Republik verteidigen“, hieß es in den vergangenen Tagen immer wieder bei den stundenlangen, hitzigen Diskussionen in den Clubs der Hauptstadt. Die neuen Arbeiterzeitungen und die Redaktion der Frauenzeitung La voix des femmes, die ab Anfang nächster Woche täglich erscheinen soll, trugen diese Forderung weiter in die Öffentlichkeit.

Gestern waren alle großen Korporationen auf dem Platz der Revolution vertreten. Hinter den Tischlern, Schuhmachern und Schneidern gingen die Näherinnen, die Herstellerinnen der beliebten Pariser Luxusgüter und die Büglerinnen. Weiter hinten marschierten die Arbeiter der Nationalwerkstätten. Auch wenn die Pariser Nationalwerkstätten im Gegensatz zu denen in Marseille, die bereits mit den Vorarbeiten für den Bau des Kanals von Gardanne begonnen haben, noch untätig sind, und auch wenn der tägliche Lohn von 1,14 Franc am Tag recht mager ist, so sind sie doch alle bereit, ihren neuen Arbeitsplatz zu verteidigen.

Schließlich liegt das Elend der Arbeiter erst wenige Wochen zurück. Seit den 30er Jahren, als sich die neuen Märkte in England und Südamerika öffneten und die Produktion immer schneller anstieg, hatten die Fabrikanten ihre Produktion vergrößert. Erst hatten sie dafür Menschen aus der französischen Provinz nach Paris gelockt, dann Ausländer – unter anderem auch die fast 40.000 Deutschen, die jetzt noch in Paris leben. Selbst die festen Tageslöhne gerieten bei der neuen Massenproduktion in Vergessenheit. Immer mehr Produkte wurden in Heimarbeit hergestellt. Bezahlt wurden sie pro Stück und nicht mehr nach Arbeitszeit.

Noch im Februar waren Pariser Arbeitergruppen in den Faubourg Saint Antoine gezogen, wo sie sich Straßenschlachten mit den deutschen Gastarbeitern lieferten, die besonders in der Möbelherstellung zu Niedriglöhnen arbeiteten. Aber dann waren mäßigende Stimmen laut geworden.

Seither hat sich das Klima zwischen deutschen und französischen Arbeitern etwas entspannt. Die Pariser Clubs und Korporationen sind längst darauf konzentriert, über Themen wie die Abschaffung der Fabrikanten und Schmarotzer, über die Gleichberechtigung und Gleichbezahlung aller Arbeiter und über den Fortgang der Streiks überall im Lande zu diskutieren. Gleichzeitig brachen in Lyon die Hufschmiede ihren im Februar begonnenen Streik ab. In einer vorgestern vom Salut Public veröffentlichten Erklärung begründeten sie das mit ihrem vollen Vertrauen in die Übergangsregierung.

Die Nachrichten aus Berlin, „wo die Preußen dabei sind, den König zu verjagen“, sorgten gestern in den Pariser Straßen für Wohlgefallen. Zugleich hielten die 200.000 Menschen, die feierlich und diszipliniert durch die Stadt zogen, die eigene nationale Lage und die Bedrängung der Übergangsregierung für das gegenwärtig wichtigste Thema. Als gegen 13 Uhr ein von der Größe der Demonstration sichtlich überraschter Louis Blanc, Mitglied der Übergangsregierung und Vorsitzender der Luxemburg-Kommission, die das Arbeitsrecht reformieren soll, auf den eilig herbeigeschafften Tisch vor dem Rathaus stieg und ihnen zurief: „Danke für Ihre Mäßigung. Wir werden jetzt die Wünsche des Volkes prüfen. Es lebe die Republik“, gaben es die ersten Reihen an die hinteren weiter. Als die Botschaft am Ende des Zuges ankam, waren alle erleichtert.