Auf der scharf gewürzten Seite des Lebens

■ Sven-Eric Bechtolf inszeniert Genußmensch Baal ohne Sauerkraut im Thalia Theater

„Wir sind heute alle Mini-Baals“, meint Sven-Eric Bechtolf. Wie bitte? Was verbindet den Normalbürger mit dem saufenden Poeten und Sänger Baal, der seine Gelüste rücksichtslos auslebt, die Frauen reihenweise verführt und fallenläßt, der betrügt und mordet, bis er jämmerlich zugrunde eht? Bechtolfs Antwort ist einfach: der Hedonismus.

Im wilhelminischen Obrigkeitsstaat, in dem Bertolt Brecht 1918 sein erstes Stück Baal schrieb, war ein anarchischer Künstler noch eine Provokation. „Um heute das Publikum zu provozieren, müßte Baal ein Neonazi sein“, sagt Bechtolf. Seine Inszenierung am Thalia Theater mit Nicky von Tempelhoff in der Hauptrolle will keine Skandale hervorlocken. „Ich sehe meine Aufgabe darin, Restaurationsarbeit am Stück zu leisten, ohne daß es verstaubt wirkt.“Ironische Brechungen lehnt der Regisseur ab. Entweder sei Baal fürs Theater zurückzugewinnen oder eben nicht.

Aber natürlich betrachtet Bechtolf Brechts Jugendstück auch mit Distanz. „Geradezu alberne, Bravo-hafte Intermezzi mit jungen Damen“habe sich der verhungerte Primaner in seiner Dachkammer erträumt. Später hat Brecht sein ungestümes Stück immer wieder umgeschrieben und seinen wechselnden Weltanschauungen angepaßt. Aus den fünf existierenden Fassungen bringt Bechtolf ein „Mixtum compositum“auf die Bühne. Die Persönlichkeit Baals wird an die Urfassung angelehnt, aus den fünfziger Jahren stammen raffinierte Dialoge geradezu Beckettscher Ausprägung.

Nicky von Tempelhoff war Bechtolfs Idealbesetzung für die Hauptrolle. Auf den ersten Blick will Tempelhoff, schmal, schlank und groß, so gar nicht an den Fettkloß der ursprünglichen Fassung erinnern. Doch Bechtolf kann mit dem Etikett „Genußmensch“, das man Baal so gerne umhängt, sowieso nichts anfangen. „Das erinnert mich immer an Eisbein mit Sauerkraut.“Er sieht Baal als einen Menschen, der sich „auf die scharf gewürzte Seite des Lebens setzt und an den Rändern oder gar im freien Fall operiert“. Auch von Tempelhoff fasziniert an der Rolle „die Härte und die Lust, mit der Baal in seinen Untergang hineinschlittert“. In der Popkultur entdeckt er Geistesverwandte wie Sid Vicious und Kurt Cobain.

Der saufende Baal, der sich vom warmen Dichterstübchen immer mehr in die nackte Natur bewegt, beschwört aktuelle Probleme wie Obdachlosigkeit und Drogensucht. Bechtolf möchte in Bildern Assoziationen dazu herstellen: „Das Asoziale in unserer Gesellschaft ist himmelschreiend. Aber man muß deshalb keine Spritze auf die Bühne bringen.“ Karin Liebe

Premiere: Samstag, 21. März, 20 Uhr, Thalia Theater