Lebensweltstückchen aus dem Osten

■ Groß wie ein Ami: Ingo Schulze erzählt gekonnt „Simple Storys“aus der Provinz

Kleinstädte haben ihren eigenen Reiz, angesiedelt irgendwo zwischen Tragik, Komik und Banalität. Die Menschen in ihnen heißen zum Beispiel Conni Schubert, Martin Meurer oder Barbara Holitzschek, sind Taxifahrer, geschieden oder pleite. Alle haben sie irgendwelche alltäglichen Pseudosorgen und sind eingebettet in ihre eigenen, kleinen Geschichten.

Simple Storys, nach dem hochgelobten Debut 33 Augenblicke des Glücks das zweite Buch des Dresd-ners Ingo Schulze, erzählt diese Geschichten. Nicht um die Menschen bloßzustellen oder das Kleinstadtleben mythisch zu überhöhen, sondern schlicht, um sie zu erzählen. In 29 knappen Kapiteln – oder eher short stories, die auch meist ohne einen ausgefeilten Plot funktionieren – kommen alle mal zu Wort. Raffael erzählt vom besoffenen Übermieter im Bademantel, den er für einen Exhibitionisten hält und der später bei dem Versuch, sich ein Bein zu brechen, die Treppe runterpurzelt. Barbara berichtet aufgeregt vom Dachs, den sie überfahren hat, und Martin von den Topflappen, die ihm sein Vater – „Was Praktisches braucht man immer“– überreicht.

Ebenso vertraut und familiär wie das Verhältnis der Figuren zueinander wirkt auch die Erzählweise. Die einzelnen Barbaras, Renates und Martins werden nicht langatmig eingeführt; sie sind einfach immer schon da. Als Hintergrundfolie dient das Kleinstadtflavour des neubundesländlichen Altenburg.

Schulzes Ansatz wird schnell deutlich. Gemäß der Goetheschen Symbolauffassung sucht er das Besondere im Allgemeinen. Nur muß das Besondere bei ihm gar nicht so besonders sein, weil alle kleinen, simplen Lebensweltstückchen sich genau wie die einzelnen Romankapitel zu einer größeren Geschichte zusammenfügen lassen. Diese große Geschichte ist ein Roman aus der ostdeutschen Provinz, wie der Untertitel bestätigt; er beschreibt mit gekonnter Beiläufigkeit, wie sich das Leben der Ossis seit dem Fall der Mauer geändert hat.

Schulzes Versuch, den ostdeutschen Alltag ohne Nostalgie einzufangen, gelingt. Der Spiegel bestätigte dem 35jährigen schon „den hartgesottenen Sound großer Amerikaner wie Raymond Carver“. Einmal aber tropft doch ein wenig Pathos: Wenn am Ende zwei Figuren in Taucheranzügen durch die verregnete Fußgängerzone watscheln und den Kapitalismus hinter sich im Regen lassen.

Jens Kiefer

Ingo Schulze: „Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz“, Berlin Verlag, Berlin 1998, 304 Seiten, 38 Mark;

Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38