Analyse
: Auf Thatcher-Kurs

■ China hat eine neue Regierung mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik

Wen immer man von offizieller Seite heute nach dem sich abzeichnenden Kurswechsel in China befragt, beschwört die Kontinuität. Es gehe um die Weiterführung eines unvermeidlichen, aber langsamen Prozesses, an dessen Spitze unverändert die kollektive Führung der Kommunistischen Partei stehe. Kurs- oder gar Regierungswechsel gäbe es nur im Westen. Tatsächlich bestätigte die Wahl der neuen Regierung den Schein der Kontinuität: Der neue Premier Zhu Rongji, den der Volkskongreß am Dienstag mit 99 Prozent der Stimmen akklamierte, war schon fünf Jahre lang Vize-Premier. Der neue Außenminister Tang Jiaxuan, den die Parlamentarier gestern bestätigten, war zuvor Vize-Außenminister. Wie läßt sich an diesen beiden Namen, die China fortan in der Welt vertreten, eine neue Politik ablesen?

In Wirklichkeit aber vertuscht die kommunistische Personalmaskerade eine dramatische wirtschaftspolitische Wende. Denn ohne westliche Beratung ist China auf dem Weg, genau das zu tun, was westliche Kapitalmanager dem Land als Krisenrezeptur verschreiben würden: Geplant ist eine Austeritätspolitik, die Margret Thatcher im nachhinein barmherzig erscheinen läßt. Welcher Staat hat es je gewagt, die Hälfte seiner Angestellten zu entlassen? Doch das soll in China nur der Anfang sein. Man weiß ja, daß von den 113 Millionen Beschäftigten der Staatsbetriebe unter echten marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht einmal ein Drittel zu halten ist. Die Leute müßten ihre Mentalität verändern, sagt Partei- und Staatschef Jiang Zemin. Das bedeutet nichts anderes, als daß sie sich auf der Straße einen neuen Job zu erkämpfen haben.

Daß es Chinas Regierung ernst meint mit der kapitalistischen Umerziehung der Massen, daran besteht kein Zweifel. Peking hat das Ziel, Japan die wirtschaftliche Führung in Asien abzutrotzen. Die Vorraussetzungen sind günstig: Während Chinas Wirtschaft wächst, herrscht in Japan Stagnation. Während Peking eine historische Reform im Regierungs- und Finanzsystem plant, ist Tokio daran bislang gescheitert. Zudem will China jetzt mit einem Konjunkturprogramm die Binnennachfrage ankurbeln, während Japan der Mut dazu fehlt. Da mag man einwenden, daß die japanische Volkswirtschaft immer noch viermal so groß ist wie die chinesische. Doch die Trends werden derzeit in Peking gesetzt, was auch Washington so sieht. Fragt sich nur, wielange Peking die vorherrschende kapitalistische Weltmeinung befriedigen kann, ohne daß dem Regime die Massen aufs Dach steigen. Investoren sollten beachten: In China hat es in diesem Jahrhundert schon zwei Revolutionen gegeben, in Japan noch keine. Die neue Pekinger Regierung könnte schon bald die alte sein. Allerdings hatten wir das nach der Wahl Margaret Thatchers auch gedacht. Georg Blume, Peking