„Ich bin zu Ende mit meinen Träumen ...“

■ Schuberts „Winterreise“erlebte in der Glocke eine teilweise bewegende Interpretation

„Ihr werdet es bald hören und begreifen“, sagte Franz Schubert, auf seine düstere Stimmung hin befragt, Anfang 1827 zu seinen Freunden. Zu hören bekamen sie schließlich einen „Kranz schauerlicher Lieder“– die „Winterreise“, die auch 170 Jahre nach ihrer Entstehung kaum etwas von dem Schrecken verloren hat, den sie bei ihrer Uraufführung hervorrief. Sicher ist es möglich, die Gedichte des einsamen Winterwanderers mit Schöngesang glattzubügeln. Tabea Zimmermann, Mitsuko Shirai, Harmut Höll und Peter Härtling, die die „Winterreise“in der Glocke aufführten, wählten diesen Weg jedoch nicht. Die Bratscherin, die Sängerin, der Pianist und der Schriftsteller arbeiten schon seit zehn Jahren an einem Versuch, „den originalen Schock der Winterreise wieder auslösen“zu wollen.

Peter Härtling las aus der Biographie des Dichters und Schubertzeitgenossen Wilhelm Müller, rezitierte Gedichte, und einige Lieder wurden von Tabea Zimmerman auf der Bratsche gespielt. Die beeindruckend seidige Schönheit ihrer Klanggebung, auch die regelrecht kratzigen Aggressivitäten öffneten weiterführende Atmosphären, die besonders für HörerInnen spannend waren, die die „Winterreise“kennen. Aber für „neue Ebenen, Schichten, Zeitverläufe und Erstarrungen, Brüche und Zusammenhänge“braucht es doch wohl einen anderen Einsatz, vor allem auch eine andere Textung: Kein Dokument der Metternichschen Diktaturzeit, ohne die dieses Werk nicht wäre, keine allenfalls dichterisch aufschlußreiche Verzahnung der Lebensläufe von Dichter und Komponist. Und wenn, wie geschehen, Härtling schon so viele Gedichte lesen will, dann sollte er das auch können. Das war ein wenig zu viel des schwäbischen Dilettantismus.

Im zweiten Teil der Aufführung sang Mitsuko Shirai den gesamten Zyklus der Lieder. Es gibt ein interessantes Dokument von Leopold Sonnleithner aus dem Jahre 1857, aus dem hervorgeht, wie Schubert sie gesungen haben wollte: „Ferner gestattete er nie heftigen Ausdruck im Vortrage. Der Liedersänger erzählt in der Regel nur fremde Erlebnisse und Empfindungen, er stellt nicht die Person vor, deren Gefühle er schildert“. An diese Antizipation Brechtscher Interpretationsmethoden hielt sich die große Sängerin nicht ganz. Aber ihr gelang es durchgehend, mit ihrer Diktion und ihrer Klanggebung die seelische Dramatik als eine Erinnerung auszugeben, als Vergangenheit, deren zwangsläufige Folge die Ausgegrenztheit und die Einsamkeit ist. Zu diesem Eindruck verhalf weiterhin die Methode, den ganzen Zyklus von Anfang an, sozusagen vom Ende der „Winterreise“her gesehen, als Stillstand zu interpretieren. Zu fast erschreckenden Generalpausen gerieten manche Fermaten innerhalb nahezu stehender Tempi. Perfekte Unterstützung hatte sie darin durch ihren Duopartner Hartmut Höll, der seinerseits eine Zerrissenheit vermittelte, die weit über das hinausging, was der Anspruch im ersten Teil des langen Abends gewesen war: „Ich bin zu Ende mit all meinen Träumen...“. Nach betroffener Stille Ovationen ohne Ende. Ute Schalz-Laurenze