Sehend werden fürs nächste halbe Leben

■ Wo sich Paula und Cindy treffen: Die Kunsthalle zeigt Werke aus sechs Jahrhunderten spannend und völlig neu

Eines Tages im Herbst 2023 wird der Bremer Kunstverein den 200sten Jahrestag seiner Gründung feiern. Bei diesem Fest wird die Direktorin der vom Verein unterhaltenen Kunsthalle zu den Gästen sprechen. Sie wird durch die lange, wechselvolle und manchmal auch ruhmreiche Geschichte von Verein und Museum streifen, und dann wird sie einen Moment innehalten und schließlich mit Glanz in den Augen ihren Vorgänger loben: „Heute machen wir das natürlich alles ganz anders, aber Wulf Herzogenrath hat nach der großen Sanierung Ende der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts bei den Besuchern der Kunsthalle die Schaulust wieder geweckt.“

Natürlich weiß heute niemand, was in 25 Jahren anders gemacht wird. Und darin liegt wenigstens eine Gemeinsamkeit mit den Museumsleuten, die vor 40 Jahren nicht wissen konnten, was heute anders gemacht wird. Sie, die damals das kriegsbeschädigte Gebäude notdürftig sanierten, hatten ihre Vorstellungen davon, wie man Kunst zeigt. Sie glaubten, daß es richtig sei, die Museumswände weiß zu streichen. Sie glaubten, daß Passepartouts den Bildern gut täten. Sie glaubten, daß es gut sei, im Saal oberhalb der Treppe mit Picassos „Sylvette“und anderen berühmten Bildern einige „Highlights“der klassischen Moderne zu zeigen. Auch Herzogenrath und sein Team haben ihre Vorstellungen. Zugleich kommen sie an der Tradition des Hauses nicht vorbei. Also haben sie in der sanierten Kunsthalle nichts verändert und zugleich alles verändert.

„Hier in diesem Hause wird mancher sehend für sein ganzes Leben“, schrieb Rainer Maria Rilke 1902 zur Einweihung der damals zum ersten Mal erweiterten Kunsthalle. Ganz offensichtlich haben sich Herzogenrath und Co. das Dichterlob zum Maßstab für ihre Neuinszenierung genommen. So behutsam, wie der Architekt Wolf-ram Dahms das Gebäude saniert und durch kleine Eingriffe modernisiert hat, so geschickt und in einem guten Sinn postmodern haben die AusstellungsmacherInnen dezente Überraschungen und gewollte Störungen in die Kunstschau einfließen lassen, nach der Cindy Sherman auf Paula Modersohn-Becker oder das Biedermeier auf Wolfgang Tilmanns treffen und sich durch diese und andere Ideen eine Spannung aufbaut und auf das ganze Haus ausdehnt.

Wo früher die große Treppe war, hängt jetzt Klaus von Bruchs Videoinstallation „Jago“durch das ovale Loch in die neue Halle hinab. Sie ist wie Cindy Shermans barockhafte Selbstinszenierungen, Thomas Struths Ausstellungsbilder oder Howard Kanowitz Bild „opening“eine Leihgabe. Einmal am Tag, genau um zwölf Uhr mittags, fliegt „Jago“an seinen Schnüren durch die Halle; er ist in den nächsten Wochen das Symbol dafür, daß in der neuen Kunsthalle ganz schlicht gestaunt werden darf.

Im Erdgeschoß, wo sich nur die Große Galerie mit ihrer epochenübergreifenden Skulpturen- und Bildersammlung und – scheinbar – das Kupferstichkabinett wie vor der Eröffnung zeigen, beginnt der neue Rundgang. In der Gemäldesammlung des ersten Stockwerks mit ihren farbigen Wänden und den mal in enger Petersburger Hängung, mal großzügig und mal in Clustern präsentierten Bildern setzt er sich fort. Er erreicht schließlich die fünf neuen Räume unterm Dach mit Wulf Herzogenraths „Steckenpferd“Medien-Kunst mit wunderbaren Arbeiten von John Cage, Peter Campus, Otto Piene und Olafur Eliasson und spannt einen eindrucksvollen Bogen. Es ist ein Bogen, der zeigt, wie unterschiedlich das Bildermachen in den letzten sechs in der Sammlung repräsentierten Jahrhunderten aufgefaßt wurde und wie eng vieles doch miteinander verwoben ist. Und dabei ist es ganz egal, ob in 25 Jahren wieder alles ganz anders gemacht wird. Christoph Köster

Die Kunsthalle ist am Sonntag, 22. März, ab 15 Uhr für die Öffentlichkeit zugänglich. Zur Eröffnung wird unter dem Titel „Meisterwerke auf Papier“im Anbau eine Auswahl der bedeutendsten Arbeiten aus dem Kupferstichkabinett gezeigt. Reguläre Öffnungszeiten ab Dienstag, 24. März: Di 10-21 Uhr, Mi-So 10-17 Uhr