Die Steppe hinter Berlin

Wolfgang Büschers Buch „Drei Stunden Null“ sind alltagsethnographische Erkundungen des Ostens – Traumbild und Mythos inklusive  ■ Von Harry Nutt

Am Ostufer der Elbe, soll Adenauer einmal gesagt haben, beginnt die asiatische Steppe. Ein tiefes Unbehagen gegen die unendlichen Weiten des Ostens leitete seine Politik der Westanbindung. Hitlers enthemmtes Gefühl für Raum sollte durch Nachbarschaftspolitik im Westen wieder gebunden werden. Darin stimmte selbst die Generation der Kriegskinder, die Ende der sechziger Jahre gegen die zum Denkmal geronnene Adenauerpolitik rebellierte, mit dem Alten überein. Mit den Kaugummis der GIs hatten sie bereits in den ersten Nachkriegstagen gestisch gegen die aus russischer Gefangenschaft zurückkehrenden Väter aufbegehrt. Wie für Adenauer lag auch für die Jungen die Welt eindeutig im Westen.

Seit 1989 ist der Osten wieder da, und das unbekannte Land beginnt schon hinter dem Berliner Ring. „Berlin von innen war eine ignorante Insel und wollte von der Steppe nichts wissen. Berlin von außen war ein jähes Ereignis in einem leeren Land“, heißt es in einer Reportage Wolfgang Büschers, für die er das leere Land, das ihm wie ein einziger, endloser Thälmannring vorkommt, zu Fuß abgeschritten hat, einmal um die große Stadt herum. In den Osten macht man sich noch immer auf, „so weit die Füße tragen“. Aber welche Zeit durchläuft Büscher hier? In den Dorfkneipen erklingt Rod Stewart, während auf Beerdigungen, sagt man, gern Freddy Mercury als Untermalung zur Todesfeier gewählt wird. Die bekannten Töne lassen den Osten nur noch ferner erscheinen.

Blasen an den Füßen schärfen die Sinne bei derlei sozio-topographischen Erkundungen. Mit bemerkenswertem Erfolg hatte dies in den achtziger Jahren Michael Holzach vorgemacht. Sein Buch „Deutschland umsonst“ wurde als romantische Wanderung durch das ganz gewöhnliche Wohlstandselend der reichen westdeutschen Republik gelesen. Es waren Notizen aus der Provinz in Moll, die vor allem jungen Lesern das Behagen an der Republik und am eigenen Wohlstand durchkreuzen halfen.

Wolfgang Büschers Reportagen sind unbehaglich. Im Gegensatz zum vagabundierenden Pädagogen Holzach ist er allerdings nicht auf eine Stunde der wahren Empfindung aus. Mal als Fußgänger, mal als Flug- und Zugreisender, fragt er nach dem historischen Ort und wie die Zeiten mit ihm verbunden sind. Orlowka heißt ein nordkirgisisches Dorf, das deutsche Siedler gegründet hatten. Sie waren „Westerner“ im weiten Osten. Nun bereiteten sich die Rußlanddeutschen auf ihren Auszug nach Deutschland vor, kaum weniger ungewiß als der ihrer Vorfahren in umgekehrter Richtung.

Büscher verknüpft Reportage mit historischer Recherche und literarischer Inspiration. Das sudetische Maffersdorf bei Reichenberg sucht er wegen seiner zwei berühmten Söhne auf. Ferdinand Porsche, dem Autokonstrukteur und Konrad Henlein, Hitlers Gauleiter. „Zwei Weltbeschleuniger made in Maffersdorf“. Büschers Blick auf die Welt hat seine Stärken eindeutig da, wo er sein Material scheinbar unbearbeitet beläßt. Das Fragen überläßt Büscher oft dem Personal seiner Recherche.

In Luckenwalde, jener so ganz und gar unaufregenden Stadt etwa 50 Kilometer südlich von Berlin, ereignen sich für Büscher drei Stunden Null deutscher Geschichte dieses Jahrhunderts. Dort endete der letzte Flug der Betty Lou, eines amerikanischen Bomber, der bei seinem Rückflug von Berlin selbst von einem Flakangriff getroffen wird und einen Notabwurf auf den Stadtpark von Luckenwalde vornehmen muß. Nicht weit davon entfernt befindet sich ein kleiner Junge, der kurz vor Ostern 1968 am Kurfürstendamm in Berlin gefragt wird, „ob er Rudi Dutschke sei. Er bejaht, und der Mann schießt ihn nieder. Bevor er das Bewußtsein verliert, ruft er: ,Vater. Mutter. Soldaten!‘“

Büschers Texte sind nicht immer frei von dieser lakonischen Form von Pathos. Das Stilwollen des Autors konkurriert überflüssigerweise mit der überzeugenden Präsentation des Materials. Das gilt auch für den Titel des Buches. Die Nullstellung der Jahre 1945, 1968 und 1989 geht allenfalls mit wohlwollender Phantasie aus der Textsammlung hervor. Die Bedeutung von Büschers Reportagen liegt in ihrem Gespür für den neuen Osten. Zwar kommen seine Erkundungen in der Steppe nicht ohne einen Mythos des Ostens aus, beispielsweise in Gestalt der „transsylvanischen Sophie“, einer Grand dame osteuropäischer Überlebenskunst. Wenn zwischen den Zeilen Musik erklingt, scheint es noch immer die Schlagersängerin Alexandra zu sein, die ihre Sehnsucht nach Taiga und Balalaikaklang zum Ausdruck bringt. Der Osten ist halb Traumbild deutscher Erinnerung, halb Bedrohung eines ganz anderen. Büschers Reportagen verweisen jedoch darauf, daß sich die Alltagsethnographie mit ihren Forschungs- und Lesetechniken künftig gen Osten zu richten hat, an die Grenzen und darüber hinaus.

Wolfgang Büscher: „Drei Stunden Null“, Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 176 Seiten, 36 DM