„Keucht woanders!“

Peter Handkes fortgesetzte Journale  ■ Von Hans-Ulrich Treichel

Der in Salzburg lebende Schriftsteller Peter Handke schaut gelegentlich aus einem Fenster, welches er das „Felsfenster“ nennt. Warum es so heißt, wissen wir nicht. Möglicherweise blickt man von ihm aus auf einen Fels, oder sein Rahmen ist aus Felsstein gemacht. Vielleicht ist es auch gar kein Fenster, sondern ein Ort im „Felsenberg“, wo der Autor zuweilen spazierengeht. Offensichtlich ist es ein Ort des Nachdenkens und der Inspiration, den der Autor bevorzugt morgens aufsucht und an dem er sich Notizen macht: „So leer möchte ich sein, daß ich mit dem sich hebenden Zweig mich mithebe (25.Okt., am Felsfenster morgens).“

Viele der Einträge in Handkes neuem Journalband, der die Salzburger Jahre 1982 bis 1987 umfaßt und dem die Bände „Das Gewicht der Welt“, „Die Geschichte des Bleistifts“ und die „Phantasien der Wiederholung“ vorausgegangen sind, äußern Wünsche ähnlicher Art. Es sind Wünsche an das eigene Selbst und das eigene Schreiben, und sie mögen auf den Leser zuweilen esoterisch wirken und so, als kämen sie aus einer Mönchsklause oder dem Mund eines Zen- Buddhisten. Doch ist Handke kein Mönch und auch kein Zen-Buddhist, sondern ein Schriftsteller, dessen letztes Ziel nicht die Leere ist, sondern das nächste Buch und das, was er sein „Werk“ nennt. Leer sein will er, um sich „aufschwingen“ zu können. Sich aufschwingen aber heißt für ihn, sich „aus der Stummheit zum Erzählen“ aufschwingen. „Rein“ möchte er sein und „bei der Sache bleiben.“ Wie aber bleibt er bei der Sache? „Durch die Form.“ So werden denn auch „Form“ und „Maß“ zu den entscheidenden Zielbegriffen seiner Poetik – und vielleicht auch seiner Existenz. Denn nichts scheint ihn mehr zu bedrohen als Formlosigkeit und Maßlosigkeit. Nichts aber scheint ihm möglicherweise auch näher zu sein: „Und wodurch atmet der Gott in mir auf? Durch das Maß; und ich habe ein Maß.“ Diese Selbstwahrnehmung beeindruckt nicht zuletzt durch ihre Maßlosigkeit.

Handkes Journal und der darin aufscheinende Schriftstelleralltag nehmen sich auf den ersten Blick bewundernswert meditativ aus. Der gehetzte Zeitgenosse folgt nicht ohne Neid dem beruhigten Blick des Autors, der „an jedem neuen Morgen“ und dies schon „seit Wochen denselben Weberknecht an einer anderen Stelle der Hauswand“ sitzen sieht, „wie eine Sonne, deren Aufgangsstelle sich Tag um Tag verschiebt“. Und lesen wir nicht mit einer gewissen Rührung, daß „die schwarze Schnauze des Igels gesprenkelt von Milchtropfen“ ist, wobei der Igel die Milch dem Autor verdankt. Doch man täusche sich nicht: Das Geschriebene ist nicht das Gelebte, und allem Anschein zum Trotz scheint hinter all der Ruhe und Gelassenheit der Handkeschen Aufzeichnungen doch ein Gefühl von Panik und – mehr oder minder verborgener – Gewaltsamkeit auf: „Manchmal ein derartig starkes Bedürfnis nach Reinigung und Reinheit (...), daß man glaubt, man müsse sich opfern (= sich töten), um endlich rein zu werden (und statt ,man‘ sag ruhig einmal ,ich‘).“

Auch Handkes Blick auf die Literatur ist nicht so sachlich beruhigt, wie es auf den ersten Blick scheint. Wohl liest er, der von der „Reinheit des Lesers“ träumt, ganz gegenwartsabgewandt und hier Ernst Jünger ähnlich, den Talmud, Vergil, Hebbel, Aischylos sowie einen römischen Landwirtschaftsschriftsteller namens Columella. Doch liest er auch, und das hat Ernst Jünger wohl nicht getan, den Landsmann und Verlagskollegen Thomas Bernhard.

Handke kritisiert Bernhard nicht. Er vernichtet ihn: „Thomas B.; der unfruchtbarste aller Schriftsteller (soviel er auch schreiben mag).“ Oder: „Dem Th. B., dachte ich heute, fehlt in dem, was er schreibt, schon seit langem der Schmerz. Deswegen sind seine Tiraden – nichts.“ Als ob sich Literatur durch Schmerzen beglaubigen müßte. Daß es darüber hinaus dem lungenkranken Bernhard an Schmerzen nicht gemangelt hat, weiß die Öffentlichkeit spätestens seit seinem Tod. Handke wird es schon vorher gewußt haben. Warum also dieser Furor, der sich der Sprache eines Sittenwächters bedient: „Th. B.: entschlossen-demagogisches Erzählen; man kann es auch bewundern; für mich aber ist es form- und sittenverderbend.“ Und: „Jetzt weiß ich; Literatur muß einen Duft haben, freiwerdend nur durch den freien Leser (und Nicht-Literatur, wie die von Thomas B., hat keinen Duft).“

Daß Handke so vehement austeilt, alle Gelassenheit und auch jede ,Form‘ dabei einbüßt, zeigt sicherlich, wie sehr ihm Thomas Bernhard – ob durch sein Schreiben oder durch seinen Erfolg – zugesetzt haben mag. Zugleich aber erlaubt es uns auch, im zumeist souverän sich gebenden Autor auch einmal den um sich schlagenden Menschen zu entdecken. Das erleichtert den Zugang und macht zugleich deutlich, daß Handkes Vorstellungen vom „gerechten Schreiben“, vom „heiligen Ernst“, von „warmer süßer Feierlichkeit“, vom „Anschauen, bis das Herz schlägt in den Dingen“ vor allem Utopien sind: Utopien der Literatur und des eigenen Selbst. Es ist zu hoffen, daß Handke noch lange unterwegs ist zu diesen Utopien. Daß er nicht allzuoft „aufs Ganze“ geht, sondern vor allem aufs Einzelne blickt. Das kann während eines Spazierganges in Salzburg sein, wo er den vorbeihechelnden Joggern zuruft: „Keucht woanders.“ Das kann auch auf dem Fußballplatz beziehungsweise im Vereinslokal des „Athletiker-Sportclubs“ sein: „Im hellen Licht saßen wir verstreut da, während draußen die wenigen Blätter der einst von den Sportlern selbst gepflanzten Pappeln sich drehten in der Dämmerung, zur leisen Radioherbstmusik: die blondgefärbte, sehr junge Schwangere im Pracht-Dirndl, ihr ebenso junger Mann mit offenen Tennisschuhen, die verhärmte, sehr bleiche Köchin mit den dünnen Haaren, ihr Mann, der Stenz mit der naß zurückgekämmten Frisur, gestreifter Rock, karierte Hose. Eigenartige Würde dieser Gruppe auf einmal, zusehends, dieser Gruppe da am verlassensten Stadtrand, wie sie dasaß, ohne Erwartung, versunken alle miteinander, doch scharf umrissen von einer kümmerlichen Zusammengehörigkeit.“ Hier, an den Rändern, in den Grauzonen des täglichen Lebens, die doch das Leben selber sind, bewährt sich der „Schwellensinn“ des Erzählers Peter Handke auf wunderbare Weise. Hier, in der Tristesse eines österreichischen Vereinslokals, rührt er uns an mit einer Szene von unwiderstehlicher Trostlosigkeit.

Peter Handke: „Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987)“. Residenz Verlag, Salzburg 1998, 541 S., 58 DM