: „Die Jungs nerven doch sowieso nur“
Koedukations-Pause: An der Berliner Poelchau-Schule haben Mädchen und Jungen neuerdings getrennten Chemieunterricht. Damit Asuman und Doris sich mehr zutrauen und Deniz und Gregor auch aus Fehlern lernen können ■ Von Constanze von Bullion
Beim Kommando „Froschbrillen aufsetzen“ ist es mit der Disziplin vorbei. „Iiiiih!“ heult es aus den hinteren Bänken. „Sieht doch total beknackt aus.“ Aber Frau Janke fackelt nicht lange. Die resolute Chemielehrerin der Poelchau-Oberschule in Berlin drückt jeder ihrer 13 Grazien eine dicke Schutzbrille in die Hand. Die eine Hälfte der Klasse läßt sie Reagenzgläser in den Schraubstock spannen, die anderen doktern am Bunsenbrenner herum. Vom Ötzi hat Frau Janke eben erzählt, von den Bronzewerkzeugen des Urzeitmenschen und von einer Lösung, die „Bariumhydroxid“ heißt. Doch wie man Kupfer herstellt, kapieren ihre Schülerinnen – samt und sonders Mädchen – erst, als sie ihre Röhrchen über die Flammen halten und milchige Blasen aufsteigen. „Äääh, wie Sperma“, kräht prompt eine. Doch die anderen hören nicht mehr hin. Die Mädels aus der Achten sind beschäftigt. Mit Chemie statt mit Jungs.
Getrennt lernen – gemeinsam durchkommen heißt die Devise, nach der neuerdings acht Berliner Schulen ihre Schützlinge unterrichten. Ob am Computer, beim Chemieexperiment oder der Cosinusberechnung: Mädchen und Jungen sind sich gegenseitig im Weg, wenn es um Naturwissenschaft oder Technik geht, meinen die Befürworter der „reflexiven Koedukation“, also eines auf bestimmte Fächer begrenzten und zeitweilig getrennten Unterrichts von Mädchen und Jungen. Seit Jahren wirbt das Berliner Institut für Lehrerfortbildung für solche Schulversuche. Die Schulsenatorin der Hauptstadt hat es den Lehrern jetzt freigestellt, das neue Modell zu übernehmen. An Nordrhein- Westfalens Schulen soll es flächendeckend eingeführt werden.
Ein Rückschritt in Kaisers Zeiten, meinen viele Lehrer. In der DDR wurde nie anders gelehrt als in gemischten Klassen. Im Westen machten 68er-Pädagogen der Aufteilung in vornehme Knabenschulen und biedere Mädchenpensionate ein Ende. Inzwischen müssen allerdings auch sie zugeben: Gleichheit ist nicht Gerechtigkeit. Wo die Jungs im Unterricht lautstark auf sich aufmerksam machen, halten die Mädchen viel zu oft die Klappe. Immer weniger deutsche Schulabgängerinnen trauen sich einen Job in der Elektrobranche oder im Maschinenbau zu, ermittelte kürzlich das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Fast jeder dritte Absolvent, aber nur jede hundertste Absolventin entscheidet sich für einen Zukunftsberuf in der „Männerdomäne“ Technik.
„Später mal Chemie? Bloß nicht“, sagt Amal und schüttelt entrüstet ihre schwarzen Kringellöckchen. „Obwohl“, schiebt sie nachdenklich nach, „das mit meinem Job schon was zu tun haben wird.“ Friseurin will Amal werden. Jeden Montag in der sechsten Stunde schmort die Achtkläßlerin mit ihren Leidensgenossinnen über den gekachelten Versuchstischen der Poelchau-Gesamtschule, einem nicht mehr ganz taufrischen Neubau in Berlin- Charlottenburg. Bis zur Mittleren Reife müssen die Mädchen noch anderthalb Jahre durchhalten. Immerhin, sagen sie, „Frau Janke ist schon in Ordnung“.
Als „Urgestein“ bezeichnet sich die großgewachsene Westberlinerin, die vor der Tafel herumstiefelt und ein Fragengewitter über ihren Schülerinnen niedergehen läßt. Warum läuft Kupfer grün an, Hannan? Was ist Kupferoxid, Jacqueline? Wie muß ich das Gemisch erhitzen, damit es aufblüht, Doris? Jede Stunde ein neuer Versuch, immer gibt es etwas anzufassen, zu riechen oder zu schmecken. „Die Mädchen müssen gezielt angesprochen werden, sie müssen ran und etwas in der Hand haben“, erklärt Ursula Janke, die hier Schülerinnen aus zwei achten Parallelklassen unterrichtet. Die Jungs sitzen nebenan, eine weitere Gruppe hat gemischten Unterricht. Nächstes Jahr werden alle im alten Klassenverband weitermachen. „Und bis dahin“, hofft die Chemielehrerin, „haben die Mädchen gelernt, sich etwas zuzutrauen.“ Denn daß die Schülerinnen unter sich bleiben, heißt noch nicht, daß jede gleich mutig zupackt. „Machen Sie erst mal, Frau Janke“, sagt Asuman, als die Reagenzgläser mit zwei schwarzen Pülverchen verteilt werden. „Traust du dir das nicht zu?“ fragt die Lehrerin zurück. Und dann geht es doch. Die Röhrchen werden verstöpselt, bei Kim und Chalilah glüht schon die Holzkohle mit dem Kupferoxid überm Bunsenbrenner, einen Tisch weiter geht die Mixtur laut knallend hoch. „Stöpsel raus!“ schreit Frau Janke noch, doch das geht unter. „Typisch Weiber“, würden die Jungs jetzt sagen.
Fehler müssen erlaubt sein, kreative Umwege sind erwünscht, und abseits von pubertärem Mackergehabe kommen Frauen in der Ausbildung schneller voran, behauptet Ursula Janke. Die 57jährige hat ihre naturwissenschaftliche Laufbahn selbst in der Mädchenklasse einer Realschule begonnen. Eine „saustrenge Lehrerin“, die sie „anfangs gehaßt“ habe, ließ sie damals ihre ersten Experimente anstellen. Das straffe Lehrprogramm für die Schülerinnen war zwar unbequem, schlug aber an. Noch im gleichen Schuljahr sei bei Ursula Janke „der Wunsch entstanden, Chemie zu machen“.
Erfolgsgeschichten hin oder her, Mädchenklassen werden das piefige Image von Hanni und Nanni nicht los – anders als in angelsächsischen Ländern. So gelten Großbritanniens Privatschulen für höhere Töchter seit jeher als elitäre Kaderschmieden. Und in den USA boomen die Frauen-Universitäten, auf denen First Lady Hillary Clinton oder US-Außenministerin Madeleine Albright ihre Karrieren starteten.
In Deutschland dagegen backen die Kämpferinnen für getrennten Unterricht noch kleine Brötchen. „Ich will keine reinen Mädchenschulen“, sagt sogar Frau Janke, „die Schülerinnen sollen hier nur Zugang zum Fach kriegen, dann lassen sie sich nächstes Jahr von den Jungen nicht mehr beeindrucken.“ Ob die Mädels aus der Achten beeindruckt wären von ihren Jungs, ist allerdings äußerst fraglich. Oxidation heißt das Verfahren, mit dem man sich hinter der nächsten Klassentür herumschlägt. Zwei Dutzend Jungs testen die „Redox-Reaktion“, und daß es keine Zuschauerinnen gibt, ist vielleicht ganz gut so. Kleine Gläser mit einem Streifen Magnesium hat Chemielehrerin Manuela Hiebert verteilt, ein Assistent im weißen Kittel pumpt Kohlendioxid dazu. „Können wir anfangen?“ fragt einer aus der vierten Bank, doch Deniz und Gregor haben das Gemisch schon angezündet. Eine gleißende Flamme schießt ihnen entgegen, dann kleckert das flüssige Metall auf den Tisch und bleibt als weißer Flecken kleben. „Scheiße“, sagt Deniz, zuckt gelassen mit den Schultern und zieht sein Heft heraus.
Auch Jungen lernen entspannter, wenn keine Mädchen sich über ihre Fehler lustig machen, hat Chemielehrerin Manuela Hiebert festgestellt. „Die müssen nicht so viele Faxen machen, wenn sie unbeobachtet sind“, meint die 29jährige, die seit diesem Schuljahr das Projekt unterstützt. Kein Zufall übrigens, daß sich an der Poelchau- Oberschule zwei Frauen für die zeitweise getrennte Erziehung stark machen. „Unsere Herren der Schöpfung haben bisher abgelehnt“, berichtet Ursula Janke. Denn wer von den ausgetretenen Pfaden der Koedukation abweicht, muß nicht nur mit pädagogischen Diskussionen rechnen, sondern auch mit Überstunden: Rahmenpläne zu ändern und Klassen neu aufzuteilen kostet Zeit. Wer gezielt soziales Verhalten statt reinen Fachwissens fördern will, muß mehr Engagement zeigen. Und auch die wissenschaftliche Begleitung des Schulversuchs ist nicht einfach, weiß Elke Hofmann. Die Mathelehrerin vom Berliner Institut für Lehrerfortbildung ist in der Hauptstadt federführend in Sachen „reflexive Koedukation“. Derzeit kämpft sie um die Finanzierung. „Nordrhein-Westfalen hat für den Versuch Geld von Bund und Ländern bekommen“, ärgert sie sich, „und wir haben noch keinen Pfennig für die wissenschaftliche Begleitung unserer Arbeit gesehen.“ Ehrenamtlich sind die StreiterInnen für das Berliner Pilotprojekt unterwegs.
So tingelt Hans-Joachim Lechner, ein Ex-Physikprofessor aus der DDR, von Schule zu Schule, um Lehrer für den Schulversuch zu gewinnen. Er dokumentiert per Video gemischten und getrennten Unterricht und läßt Studenten das Verhalten der Kinder beobachten. „Geschlechtertrennung ist kein Wundermittel“, findet Lechner, „vielmehr kommt es auf offenen Unterricht an.“ Auch in gemischten Klassen würden sich Mädchen für Naturwissenschaften begeistern, wenn sie originelle Ideen einbringen dürften, hat er herausgefunden. Von reformiertem Unterricht wollen etliche Lehrer allerdings nichts hören. „Gerade im Osten“, weiß Lechner, „finden viele das Projekt überflüssig.“
Die einen Pädagogen mögen zu ängstlich sein, die anderen einfach zu bequem. So winkte etwa der Deutsche Lehrerverband in Sachen Geschlechtertrennung ab. Begründung: Der Stundenplan werde gesprengt. Doch nicht alle Kritik kommt so kleinkariert daher. Nicht ganz von der Hand zu weisen ist zum Beispiel das Argument, daß Schülerinnen ihre Klassenkameraden noch stärker überschätzen, wenn sie deren Patzer nicht miterleben. Um in den Naturwissenschaften das Vorurteil von „cleveren Jungs“ und „doofen Mädchen“ aufzubrechen, reicht ein Jahr getrennten Unterrichts nicht, stellte man bei Versuchen in Hamburg und Rheinland-Pfalz fest. Dort wurde das Unternehmen Geschlechtertrennung bereits wieder abgeblasen.
Viele Rollenklischees halten sich hartnäckig – trotz gesonderter Trainingsstunden. Den Beweis dafür treten die Kids von der Poelchau-Oberschule nur zu gerne an. Eben hat es geklingelt, die Jungs stürmen sofort aus dem Klassenzimmer, die Mädchen schreiben noch den Satz zu Ende. Draußen auf dem Gang sieht man, daß die weibliche Fraktion die männliche um Kopfeslänge überragt, daß die einen schon fast ausgewachsene Frauen sind, während bei den anderen noch die Stimme wackelt. Die allerdings tönt dann um so lauter. „Klar wollen wir lieber zusammen mit den Mädchen unterrichtet werden“, sagen die Jungs, „aber nur, wenn sie hübsch sind.“
Getrennte Klassen finden auch einige Mädchen langweilig. „Das macht keinen Spaß“, meint Meltem, „mit den Jungen ist es lustiger, die sind viel frecher.“ Schöne Damen und witzige Herren? Doris hängt das öde Spiel längst zum Hals heraus: „Die Jungen machen doch mit Absicht Fehler, um sich aufzuspielen“, sagt die 14jährige, die in Chemie eine der Besten ist. Auch Hannan ist froh, daß die Knaben mal außen vor bleiben. „Ich habe sowieso bessere Noten als die Jungs“, sagt sie und schlendert in Richtung Ausgang, „in unserer Klasse nerven die doch nur.“
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