Auf Oma kommt es an

Welchen Anteil haben Großmütter an der Entwicklung der Menschen? Studien über die Menopause geben einem alten Streit neue Nahrung  ■ Von Peter Tautfest

Das Schöne an Forschung und Wissenschaft ist, daß sie oft soviel Zeit, Energie und Geld darauf verwendet, Fragen zu stellen, deren Antwort jedermann schon zu wissen glaubt. Das macht sie so menschlich, ja so verständlich. Nehmen wir Omas Rolle in Familie und Gesellschaft. Selbst wer keine Großmutter mehr hat, ahnt doch, daß Großmütter für die menschliche Entwicklung bedeutsam sind. Könnte es sein, daß sie gar für die Menschwerdung unentbehrlich waren?

Großmütter spielen auch in Zeiten eine Rolle, die nicht von Krisen gezeichnet sind, doch ihre Bedeutung in menschlichen und gesellschaftlichen Extremsituationen verweist möglicherweise auf ihre Rolle bei der Menschwerdung der Primaten – das jedenfalls behauptet ein Zweig der Anthropologie, der die sogenannte „Großmutterhypothese“ hervorbrachte.

Großmütter nämlich sind eine menschliche Errungenschaft und ihre Position in Familie und Gesellschaft ist einer Reihe von Besonderheiten geschuldet, die das Menschengeschlecht vom Tierreich unterscheidet. Deren bedeutsamste ist die Menopause, das Unfruchtbarwerden der Frau ungefähr in der Lebensmitte. Während bei Säugetieren die Weibchen bis ins Alter fruchtbar bleiben, decken sich bei Frauen die Lebensphasen von Fruchtbarkeit und Greisenalter nicht.

Dieser Umstand ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er gegenüber dem Tierreich eine Besonderheit darstellt, sondern auch, weil er ein evolutionsbiologisches Rätsel aufgibt. Welchen Sinn hat die Menopause für die Erhaltung der Art? Wo doch das eherne Gesetz der Evolution besagt, daß sich nur jene Eigenschaften vererben und durchsetzen, die der Erhaltung, Reproduktion und Verbreitung der Art dienen?

Wenn dem aber so ist, müßte dann der Entwicklung des Menschen nicht eher damit gedient sein, daß Frauen bis ins hohe Alter fruchtbar bleiben, um möglichst viele Kinder zu gebären? Die Menopause muß also eine Anpassungsleistung sein, die den Menschen die Höherentwicklung ermöglichte. Aber welchen Vorteil könnte die Menopause haben?

Antwort auf diese Frage gab die Großmutterhypothese, die derzeit aufgrund neuer Forschungen unter Anthropologen und Evolutionsbiologen wieder diskutiert wird. Während für Mediziner die Menopause und damit einhergehend eine veränderte Hormonbildung in erster Linie unter dem Gesichtswinkel der Risikoabwägung gesehen wird, glauben Anthropologen, in der Menopause einen entscheidenden Kniff der Evolution bei der Entwicklung des Menschen entdeckt zu haben.

Die Theorie ist nicht neu. Sie wurde erstmals 1957 von George C. Williams zur Debatte gestellt, einem Evolutionsbiologen, der darauf hinwies, daß auch Elefanten und Wale, Gattungen also, die ein dem Menschen vergleichbar hohes Alter erreichen, anders als diese bis kurz vor ihrem Tod fruchtbar bleiben. Die sogenannte Großmutterhypothese bindet gleich mehrere menschliche Besonderheiten zu einer eleganten und in sich widerspruchsfreien Theorie zusammen: Da ist einmal die verlängerte Aufzucht, die – verglichen mit den Gepflogenheiten im Tierreich – unverhältnismäßig lange währt. Das Problem mit der verlängerten Kindheit aber ist, daß sie einen Zeit-, Arbeits- und Energieaufwand erfordert, der eigentlich im Widerspruch zu den Reproduktionsaufgaben der Frau steht. Frauen sind nämlich mit Kindererziehung just zu einer Zeit beschäftigt, da sie eigentlich schon mit dem Kinderkriegen ausgelastet sind.

Das Unfruchtbarwerden der Frau in einem Alter, in dem sie noch rüstig ist, schafft hingegen eine Voraussetzung zur Lösung dieses Problems. Das Füttern von Enkeln nämlich ist, wie Jared Diamond, Evolutionsbiologin und Physiologin an der University of California in Los Angeles, erklärt, die bessere Strategie zur Umwandlung von Kalorien in Babypfunde als das Aufziehen eigener Kinder. Nicht nur das. Die Übernahme eines Teils der „Brutpflege“ durch die Großmutter entlastet die Mutter und schafft die Voraussetzung dafür, daß diese mehr Kinder gebären kann.

Diese Theorie liefert eine evolutionsbiologische Erklärung für die Entstehung des erweiterten Familienverbands – und sie entthront den Mann, dem bisher die Leistung der Familienbildung weitgehend allein zugeschrieben wurde. Nicht der Jäger ernährt und beschützt die Frau, sondern die Großmutter, deren Arbeitsübernahme in einer Gesellschaft der Sammler und Jäger sowohl in der Kinderaufzucht wie im Sammeln von Früchten und Knollen bestanden haben wird.

Die Theorie ist umstritten, und zur Erklärung der Menopause stehen sich zwei feindliche Lager gegenüber, die Adaptionisten oder Anpassungstheoretiker und die Artefaktionisten oder Nebeneffekttheoretiker. Für die einen ist die Menopause eine geniale Strategie der Natur zur Entlastung der Mütter und zur Steigerung von deren Gebärfreudigkeit sowie gleichzeitig zur Verlängerung der Aufzucht. Damit wäre die Menopause für die Menschwerdung so wichtig wie die großen Hirne und der aufrechte Gang.

Für die Gegner dieser Theorie hingegen ist die Menopause ein Abfallprodukt verlängerter Lebenserwartung. Die Fruchtbarkeit einer Frau ist nämlich wie die eines Schimpansenweibchens durch die bei der Geburt vorgegebene Anzahl der Eizellen bestimmt. Bei beiden reicht der Vorrat für 40 bis 45 Lebensjahre. Der Unterschied zwischen Mensch und Affe ist nur der, daß die Frauen das Ende ihrer Fruchtbarkeit überleben, während das Schimpansenweibchen meist vor oder unmittelbar nach dem Versiegen des Eizellenvorrats stirbt. In den Jahrmillionen, in denen frühe Menschen die Erde besiedelten, wurden Frauen nie alt genug, um ihren Vorrat an Eizellen auszuschöpfen und deren Ausgehen zu überleben. Längere Lebenszeiten stellten sich erst vor etwa 40.000 Jahren ein, als die Evolutionsgeschichte des Menschen bereits weitgehend abgeschlossen war. Die Menopause ist mithin weiter nichts als ein Artefakt.

So reizvoll diese Theorie auch ist, sie läßt jedoch entscheidende Fragen unbeantwortet. Kein Mensch weiß, wie lange unsere Vorfahren vor Jahrmillionen lebten. Sollten frühe Menschen wirklich nur wenige Jahrzehnte gelebt haben, müßten sie angesichts der hohen Säuglingssterblichkeit, von denen die Paleodemographie berichtet, extrem fruchtbar gewesen sein, wenn die Art nicht aussterben sollte.

Neuere Feldforschungen haben nun zu einer Wiederbelebung dieser Debatte geführt. Letztes Jahr nämlich präsentierten Kristen Hawkes und James O'Connel von der University of Utah zusammen mit Nicholas Blurton Jones von der University of California in Los Angeles die Ergebnisse ihrer jahrelangen Beobachtungen am kleinen Volk der Hadza in Tansania. Bei diesen Jägern und Sammlern spielt eine Gruppe rüstiger Grußmütter eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Kleinkinder. Jede stillende Mutter hat eine Großmutter – nicht unbedingt die eigene – an ihrer Seite, und gut die Hälfte der Kalorien, die Kinder und Heranwachsende aufnehmen stammen von Wurzeln und Knollen, die Oma im Wald ausbuddelt.

Hawkes Beobachtungen an den Hadza erlaubt eine Versöhnung beider Theorien – zu einem gewissen Grad. Nicht natürliche Anpassung führt zur Stillegung der Eierstöcke von Frauen, folgert die Ethnologin. Aber das Überleben der Menopause, um oft mehr Jahre als die Frauen fruchtbar waren, verschaffte den Menschen einen Vorteil gegenüber anderen Arten. Erst mit der Entstehung der Großmutter und mit ihrer Rolle im Familienverband gelang es dem Menschengeschlecht, sich in einem Maße weiterzuentwickeln, wie es keiner anderen Spezies beschieden war.

Die Großmutterhypothese reimt sich auch mit den Überlegungen über den evolutionsbiologischen Sinn des hohen menschlichen Alters. Die Weitergabe von Erfahrungen, vor allem solcher, die über die Kenntnisse der jahreszeitlichen und epochalen Zyklen hinausgehen, verschaffte den Menschen einen weiteren Vorteil. „Wenn ein Mensch stirbt, ist es, als wenn eine Bibliothek brennt“, lehrt ein afrikanisches Sprichwort. Natürlich können auch säugende Mütter und sorgende Väter solches Wissen ansammeln, aber die von der unmittelbaren Brutpflege befreiten Großeltern können das besser.

Kritiker der Großmuttertheorie machen hingegen geltend, daß sie die Rolle der Männer auf die einer wandelnden Samenbank reduzierten. Dabei ist es eine menschliche Besonderheit, daß die Frau – anders als das Schimpansenweibchen – vom Partner mehr als nur dessen Samen verlangen. Die Frau will auch Nahrung, Schutz, Zuwendung und Beteiligung an der Kinderaufzucht. Letztlich ist es doch die Arbeitsleistung des Mannes, die der Frau größere Fruchtbarkeit und das Heranziehen von mehr Kindern ermöglichte.

Für Erik Trinkaus, einem Anthropologen an der University of Missouri, ist eigentlich nichts dagegen einzuwenden, den Großmüttern bei der Entwicklung des Menschengeschlechts eine wichtige Rolle zuzuweisen. Für falsch hält er aber den monokausalen Anspruch der Großmuttertheorie.

Glaubt man den Heldengesängen auf Oma, dann geht alles an der Menschwerdung auf die Großmutter zurück. Trinkaus vermutet, daß unsere Sicht der archetypischen Großmutter stark von deren Rolle in heutigen gesellschaftlichen Extremsituationen gekennzeichnet ist – und die sind kaputter als die Urgesellschaft es war.