Birkenstämme zwischen ausrangierten Gleisen

■ Das Gelände südlich der Yorckbrücken war bis zu seiner Rodung einer der zahlreichen unvorhergesehenen Orte in Berlin. Ein Spaziergang durch eine Vergangenheit, die ohne Gegenwart ist

Nirgendwo ließ sich mein „Märchenwald“ besser betreten als von den Yorckbrücken aus. Neben dem Autodienst Yorckstraße die Böschung hoch, durch den zerfallenen Klinkerbau geklettert, und schon stand man auf einem der zahllosen Gleisstränge, die von Süden kommend die Yorckstraße in Richtung Anhalter und Potsdamer Bahnhof überbrückten. Schon beim Überqueren der Yorckstraße war jene merkwürdige Leichtigkeit zu spüren, die jeden Spaziergang, jede Wanderung durch das unwegsame Gelände südlich des Gleisdreiecks begleitete. Die Autos rauschten unter einem durch, es schien, als sei man unsichtbar, als schwebte man über der Stadt.

Ich nannte meinen Märchenwald deshalb so, weil es keine andere Bezeichnung gab. Zumindest keine, die mir gefiel. „Flaschenhals“ war mir zu brutal, Areal an der General-Pape-Straße zu berlinisch und Anhalter Bahntrasse zu nostalgisch. Auf den damaligen Stadtplänen war das Bahngelände zwichen Yorckbrücken und Priesterweg ein gelblich-beiger Fleck, wie alles, was mit S-Bahn und damit dem Osten zu tun hatte. Wie hätte aber auch eine offizielle Bezeichnung heißen mögen für dünne Birkenstämme, die zwischen ausrangierten Gleisen wuchsen, für verrostete Signalanlagen, die sich müde und alt geworden in die Landschaft fügten. Dünne Birken zwischen ausrangierten Gleisen und müde Signalanlagen sind in der Stadt und ihrem Plan eigentlich nicht vorgesehen.

Anfang der achtziger Jahre bestand Berlin nur aus Orten, die in einer Stadt nicht vorgesehen waren. Der Märchenwald war der schönste von ihnen. Und der schönste Ort im Märchenwald waren die drei Tunnel zwischen den S-Bahnhöfen Papestraße und Priesterweg. Man mußte lange nach Süden gehen, um vom Autodienst Yorckstraße dorthin zu kommen, mußte sich östlich der S-Bahntrasse durch dichtes Gestrüpp kämpfen, auf Gleisen balancieren, denen schon längst die Bohlen abhanden gekommen waren (ich habe nie verstanden, wie diesen Gleisen die Bohlen abhanden gekommen sein können) und auf die zahllosen Löcher achten, die sich mitunter zwischen den verwilderten Bahnsteigen auftaten.

Man prüfte den jeweiligen Standpunkt aus der Perspektive des Stadtplans, und dennoch ging das Gefühl für den Maßstab verloren. In einem Märchenwald orientiert man sich anders als in der Stadt. Die Stadt liegt draußen, in der Vergangenheit. Entlang der Anhalter Bahn wurde sie sogar zur Legende. Der zufolge nämlich waren dort seltene bis exotische Pflanzen zu finden, die den Samen und Pollen der Züge aus dem Orient entsprungen waren. Ich habe diese Legende aber nie finden können, dazu war ich wiederum viel zu sehr Städter.

Die drei Tunnel waren freilich nicht zu übersehen. Zwei waren mit dichten Schlingpflanzen zugewachsen und einer befahren, von der Güterbahn. Beim erstenmal bin ich vor den drei Tunneln umgekehrt. Später dann wußte ich, was ich verpaßt hatte. Hinter den Tunneln lag kein Märchenwald mehr, sondern Landschaft, Heidelandschaft. Auch Landschaft war damals nicht vorgesehen in der Stadt, nur Wald und Grünanlage und Volkspark.

Heute ist Landschaft für das Umland vorgesehen, oder das, was davon übrigbleibt. Einen Märchenwald gibt es dort aber nicht, der ist mit der Rodung unwiederbringlich verloren. Eine Landschaft, die vorgesehen ist, kann keine Märchenlandschaft sein. Das klingt nostalgisch, aber was ist schon Nostalgie gegen die Diktatur der Vergangenheit, gegen die Diktatur der Gegenwart, gegen eine Stadt und ein Umland, in dem es nur noch Orte gibt, die vorgesehen sind. Uwe Rada