Arme Schatzinsel Madagaskar

Die Insel scheint von der Welt vergessen zu sein. Die Ureinwohner der Arche Noah wie die 300 Reptilienarten und Chamäleons haben die Begehrlichkeit des internationalen Tourismus noch nicht geweckt. Die Parfüm-Insel hofft auf bessere Zeiten  ■ Von Albrecht G. Schäfer

Der frische Wind bläht das geflickte Segel, der Ausleger schneidet zischend durch die Wellen. Julien bedeutet seinem Passagier, sich auf die Luvseite des Bootes zu setzen, um es in Balance zu halten. Es geht hinaus in die Straße von Moçambique, dem feuerroten Sonnenball entgegen und dann, wenn der ins Meer getaucht ist, wieder zurück an den Strand.

Der Vazaha, der Weiße, der sein Boot für den kurzen, feuchten Spaß gemietet hat, zahlt Julien später 15.000 Franc Malagasy. Für ihn, den Mann vom Stamm der Vezo, sind die rund 5 Mark ein ansehnliches Zubrot. Jedenfalls bringt das Touristen-Segeln mehr ein als die mühsame Fischerei.

Ein paar Dutzend Urlauber beleben die bescheidene Infrastruktur um den Ort Ifaty im Südwesten Madagaskars, wo die trockene Hitze lähmend über der Wüstenlandschaft liegt. In Juliens Feierabendstimmung mischt sich Melancholie. Seit Anfang 1997 ist der neue alte Präsident Didier Ratsiraka wieder im Amt. Dieses Mal sogar von demokratischen Wahlen bestätigt. Erneut hoffen Julien und die 14 Millionen Landsleute, von denen die meisten mit weniger als 100 Mark im Monat auskommen müssen, auf bessere Zeiten, auf einigermaßen stabile Preise für Reis und andere Grundnahrungsmittel. „Humanistisch und ökologisch“, Julien schreit die Fremdworte gegen den Wind, „hat Ratsiraka die neue Politik genannt. Was wir brauchen, ist eine gute Straße von Toliara nach Ifaty, damit mehr Fremde kommen.“ Außerdem sei er sauer auf den jungen Franzosen, der vor kurzem am Strand eine Tauchbasis eröffnet hat. Mit seinem Speedboot locke er ihnen die Kunden weg. „Wer von uns Vezo kann sich schon einen Außenbordmotor leisten, wo das Geld kaum für Kleider oder Segeltuch reicht?“

Madagaskar, mit 590.000 Quadratkilometer die viertgrößte Insel der Erde, kommt mir wie von der Welt vergessen vor. Selbst die Hauptstadt Antananarivo, wo weiterhin museumsreife R4- und 2CV-Gefährte über die buckligen Straßen holpern. Das Angebot der Märkte zeigt die eher bodenständigen Bedürfnisse der meisten der inzwischen 1,5 Millionen Einwohner, eine Melange aus Tristesse und Fröhlichkeit. Rostige Schrauben, verbeulte Radkappen, Spielzeug aus Holz und Dosenblech gewerkelt – daneben buntes Gemüse, Gewürze und Blumen.

Eine augenfällige Veränderung stellen die aggressiven Werbeposter an Kreuzungen und öffentlichen Plätzen dar. Bis 1992 flatterten dort die Propagandasprüche der sozialistischen Diktatur unter besagtem Didier Ratsiraka.

Die Besichtigung des Rova, des Königspalastes, einst obligatorischer Programmpunkt einer Madagaskarreise, muß ausfallen. Nur eine traurige Ruine ist von dem kulturhistorischen Wahrzeichen, das im November 1995 in einer Feuersbrunst verbrannte, übriggeblieben. Eine nationale Schmach, denn vernichtet wurden außer den prächtigen Holzbauten mit kunstvollem Interieur auch die Gräber mehrerer hochverehrter Monarchen.

Einer von ihnen war Merina- König Andrianjaka, der 1610 Antananarivo gründete, um die Hochlandbewohner besser unterjochen zu können. Der „Ort der tausend Krieger“, auf zwölf Hügeln ausgebreitet, wird heute kurz Tana genannt. Die Merina und die benachbarten Betsileo stammen von Seefahrern ab, die vor rund 1.500 Jahren aus Südostasien gelandet sein sollen. Schon bald fühlten sich die Hochlandvölker zur Herrschaft über die übrigen siebzehn, teilweise aus dem nahen Afrika eingewanderten Volksgruppen berufen. König Andrianampoinimerina, der Ende des 18. Jahrhunderts halb Madagaskar unter seine Kontrolle gebracht hatte, proklamierte ein Reich, „dessen Reisfelder bis zum Meer reichen sollen“.

Seine Schwiegertochter Ranavalona I. liebte den Glamour der Franzosen, schürte aber gleichzeitig den Haß gegen die Weißen und ließ sie grausam verfolgen. Hatten diese sich doch seit 1500, als der Portugiese Diogo Dias im Norden gelandet war, vornehmlich als Sklavenhändler und Piraten, Plantagenbesitzer und Missionare im Land breitgemacht.

Trotz heftigen Widerstandes der Madagassen wurde die Insel 1896 eine französische Kolonie und erst 1960 unabhängig. Die 70er und 80er Jahre bestimmten Militärs und Marxisten. Bis die ideologische Wende auch Madagaskar erfaßte und die Zivilregierung unter Albert Zafy vier Jahre lang ihr Glück versuchte.

Wie ein Fanal bleibt der Palastbrand im Gedächtnis, schließlich brennt es im ganzen Land unaufhörlich an allen Ecken. Ein Schock für die Besucher, weil dies dem Bild von der Tropenidylle so sehr widerspricht. Mindestens 200.000 Hektar Wald stehen jährlich in Flammen. Dabei geht es natürlich um Holzkohle und Brandrodung zugunsten der Viehweiden. Zeburinder, davon gibt es auf der Insel mindestens ebenso viele wie Menschen, bedeuten Wohlstand, ermöglichen Heirat und Kinderreichtum. Auch fließt über kahle Hänge der Regen schneller in die Reisfelder, die wiederum die jährlich um drei Prozent wachsende Bevölkerung ernähren sollen. Das Feuer, das auch die Macht der Ahnen verkörpert, vertreibt aber vor allem die Lolo, die bösen Geister, die überall lauern.

Ein fataler Zusammenhang von Bedürfnissen der Menschen und ihren Traditionen, die in Madagaskar felsenfest verankert sind. Es wird Zeit, die derart bedrohten Schätze des Landes zu entdecken. Die knapp 400 Kilometer vor Südafrika gelegene Insel beherbergt in ihren grandiosen Landschaften zwischen Mangrovenküsten und bis 2.800 Meter hohen Bergen Pflanzen und Tiere, die zu 80 Prozent endemisch sind. Denn die „Ureinwohner“ aus Fauna und Flora konnten sich seit der Trennung Madagaskars vom Urkontinent Gondwana vor mehr als 150 Millionen Jahren ungestört entwickeln. Wie der Riesenstrauß Aepyornis, der „Vogel Rock“ aus Sindbads Erzählungen. Er ist zwar seit einigen hundert Jahren ausgestorben, aber die Schalen seiner Eier werden noch immer in der Erde im Süden der Insel gefunden. Die überlebenden Bewohner der „Arche Noah Madagaskar“ sind höchst zahlreich: 300 Reptilienarten, darunter 40 Chamäleon- und 150 Froscharten, 100 Säugetier- und unzählige Insektenspezies. Über 8.000 blütentragende Pflanzenarten, unter ihnen die insektenfressende Kannenpflanze Nepenthes madagascariensis, 1.200 Orchideenarten und eine Vielzahl kaum erforschter Heilpflanzen sind in Madagaskar heimisch.

Im Berenty-Park, dem bekanntesten der Naturreservate, zeigt sich das Land von seiner wundersamen Seite. In dem 200 Hektar großen Tamarinden- und Dornenwaldgelände haben Wissenschaftler wie Touristen beste Gelegenheit, einige der kuriosen Lebewesen zu beobachten. Wie erstarrte Krakenarme streben Didieraceen, urige Stachelsäulen, an Kakteen und Aloen vorbei gen Himmel. Bullige Baobab-Bäume protzen mit ihren Wasserbäuchen. Chamäleons, mal giftgrün, mal im Tarnkleid, schießen ihre klebrige Zunge auf Insekten.

Madagaskars Maskottchen sind die Lemuren, die Nachkommen eines gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Homo sapiens. Behende turnen ringelschwänzige Kattas, Larvensifakas und Rotstirnmakis, nur drei der insgesamt 30 Lemurenarten, in den Bäumen. Die einzigen Menschen, die es in der glühendheißen, von Dürren und Hungersnöten gebeutelten Region aushalten, sind die Antandroy, die „Menschen vom Dornenland“. Sie gelten als Exoten im eigenen Land. Weil sie sich, im Gegensatz zu den übrigen Madagassen, furchtlos den Geistern der Dunkelheit stellen. Nicht umsonst sind sie überall als Nachtwächter gefragt.

Ich faulenze am Strand von Ambatoloaka auf der nordwestlichen Nebeninsel Nosy Be. Zehn Tage über Land im „Taxi Brousse“, dem Buschtaxi, Reifenpannen und verwanzte Betten inbegriffen, stecken mir in den Knochen. Nosy Be, wo Zucker, Vanille, der Parfümbaum Ylang-Ylang und Pfefferbeeren auf fruchtbarer Vulkanerde gedeihen, hat das, wovon Julien schwärmte: Tourismus. Zum Jahresende ist das halbe Dutzend Strandhotels ausgebucht. Zu Fuß, auf Motor- und Fahrrädern, mit Booten und Tauchgerät erkunden die Touristen aus Europa und Südafrika das Eiland. Auch Kreuzfahrer ankern hier. Die Sakalava-Bewohner lassen es sich gefallen. Am Strand bieten sie Massage, Zöpfchenfrisur und Langusten-Picknick, Kinder halten den Vazaha Blumen und Chamäleons als Fotomotiv unter die Nase, gegen „Cadeau“, „Geschenk“, versteht sich.

Und nachts mischen die Fremden in den dampfenden Discos mit. Dort kommt man sich bei Techno und Salegy, dem heißen Rhythmus des Nordens, näher. Die Parfüm- Insel betört. Da paßt es doch, meint der DJ im „Moulin Rouge“, wenn er einmal am Abend den Song von Rossy, dem bekanntesten madagassischen Popstar, auflegt. Es ist das Lied, das Rossy zum Thema Aids komponiert hat.