Kriegserklärung an den Regierungschef

Das türkische Militär droht dem Regierungschef mit Putsch. Am Freitag wollen sie ihre Forderungen vorlegen  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die Interpretation von Fabeln scheint Grundvoraussetzung für das Verständnis türkischer Politik. Der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel pflegt dieser Tage Journalisten Folgendes zu erzählen: Ein Zoo in England startete einen Versuch über die Möglichkeit des Zusammenlebens von Wölfen und Schafen und sperrte sie zusammen in einen Käfig. Eines Tages fragt ein Zoobesucher den Tierpfleger, welche Ergebnisse bei dem Versuch erzielt werden. Das gemeinsame Zusammenleben klappe, antwortet der: „Nur hin und wieder müssen wir Schafe nachfüllen.“ Die Wölfe repräsentieren die mächtigen Militärs, die Schafe die Politiker.

Nachdem er sich mit den Militärs angelegt hatte, stand Ministerpräsident Mesut Yilmaz am Wochende kurz davor, „aufgefressen“ zu werden. Auf einer Fraktionssitzung seiner Mutterlandspartei hatte er am vergangenen Dienstag erklärt, daß die Bekämpfung der „Irtica“, der religiösen Reaktion, Sache der Regierung und nicht des Militärs sei. Der Ministerpräsident kritisierte die harte Gangart türkischer Universitätsverwaltungen gegen Studentinnen, die ein Kopftuch tragen wollen. Weiter forderte Yilmaz die Auflösung der „Arbeitsgruppe West“, einer von den Militärs ins Leben gerufenen Einheit, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln islamistische Strömungen observiert und politische Gegenstrategien entwirft. Indirekt verglich sich Yilmaz mit dem im vergangenen Jahr auf Druck des Militärs zurückgetretenen islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan: „Diejenigen, die nach einem ,Hau ab!‘ fliehen, sind von keinem Nutzen für das Land.“ Durch den Auftritt kam Yilmaz zum einen dem konservativen, islamischen Teil seiner Wählerschaft entgegen und versuchte, das Image als von den Militärs ins Amt gehievter Politiker abzustreifen. Zum anderen ging es um die Demonstration, daß auch ein Ministerpräsident Freiräume hat, um Politik zu gestalten, um die Demonstration, daß Detailfragen, wie Kopftücher an Universitäten, in der Kompetenz der Regierung liegen und nicht bei den Generälen.

Doch gerade die hatte Yilmaz unterschätzt. Mit einer giftigen Erklärung veröffentlichten Freitag abend die fünf ranghöchsten Generäle ein Memorandum an die „Hohe Türkische Nation“. Darin wird zwar die Treue zur Demokratie beschworen – wie in allen Prä- Putsch-Memoranden des türkischen Militärs –, Yilmaz jedoch der Krieg erklärt: „Unabhängig von Amt, Position und Aufgabe kann niemand wegen persönlicher Vorteile oder politischen Eifers Erklärungen abgeben oder Ratschläge erteilen, die die Armee von ihrer Entschlossenheit zum Kampf gegen separatistische und religiöse Reaktion abbringen, sie schwächen oder in Zweifel ziehen könnten.“ Die türkischen Medien verglichen die Erklärung mit dem Memorandum der Armeespitze 1971. Während 1960 und 1980 die Armee unmittelbar geputscht und Parteien und Parlament aufgelöst hatte, erzwang sie 1971 durch ein Memorandum mit Putschdrohung den Rücktritt der Regierung und setzte ein ihr williges Technokratenkabinett ein. Unter der Drohung der Bajonette sprach das Parlament damals der neuen Regierung das Vertrauen aus. Dafür wurde es nicht aufgelöst.

Einmal gerufen, sind die bösen Geister schwer wieder loszuwerden. Die jetzigen Koalitionsparteien klatschten Beifall, als der islamistische Ministerpräsident Erbakan von den Militärs zum Rücktritt gezwungen wurde. Erbakan hat heute politisches Betätigungsverbot, seine Wohlfahrtpartei ist verboten. Einen Machtkampf mit dem Militär kann Yilmaz' Minderheitenkoalition kaum überleben.

Deshalb schlug der Regierungschef am Wochenende sanfte Töne an. Er äußert „Verständnis“ für das Memorandum und hat die „verfassungsrechtlich festgeschriebene Pflicht der Armee gegen Separatismus und religiöse Reaktion vorzugehen“ entdeckt. Ob sich die Militärs allerdings auf einen geläuterten Mesut Yilmaz einlassen werden, ist unklar. Von zentraler Bedeutung ist die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates kommenden Freitag, auf welcher die Armeespitze mit einem Forderungskatalog rund um Laizismus und Islamismus an die Regierung aufwarten wird. Dessen Akzeptanz oder Ablehnung wird darüber entscheiden, ob ein weiteres Schaf von den Wölfen gefressen wird.