Spitzenpersonal mit fingierten Kompetenzen

Ein Soziologe hält den hessischen Grünen pünktlich zur Landesversammlung den Spiegel vor: Bei der Ämterbesetzung gelten Lokalpatriotismus und die Nähe zur Führungsriege mehr als Fachkenntnisse  ■ Aus Berlin Patrik Schwarz

Sie waren angetreten als die Partei der Erneuerer, grenzten sich von ihrer etablierten Konkurrenz als den „Altparteien“ ab – doch wie ist es im womöglich alles entscheidenden Wahljahr 1998 um die Partei der Bündnisgrünen bestellt? Pünktlich zur hessischen Landesversammlung am vergangenen Wochenende in Butzbach hielt ein Soziologe und langjähriger Beobachter der grünen Bewegung der Partei den Spiegel vor. Das Ergebnis: Just in den Punkten, die die einstigen Spontis an ihrer Konkurrenz von SPD bis CDU am heftigsten kritisierten, sind die Ähnlichkeiten inzwischen am größten.

Im Mittelpunkt der Studie, die Hans-Joachim Giegel von der Universität Jena verfaßt hat, steht der hessische Landesverband der Grünen. Zuletzt durch die Äffäre um die grüne Ministerin Margarethe Nimsch in die öffentliche Kritik geraten, hat der Landesverband von Joschka Fischer immer noch hohen Symbolwert für die Bundespartei: Mit Fischer als Umweltminister trugen die Grünen hier zum erstenmal Regierungsverantwortung.

Giegel geißelt jetzt insbesondere die Art, wie die grünen Führungsgremien mit den Vorwürfen von Filz in der Landesregierung umgehen. „Es wird so getan, als sei der ganze Vorgang in erster Linie ein Problem der Moral gewesen“, sagte Giegel gestern der taz. Als Lösung werde von der Parteispitze eine „engagiert betriebene Stärkung des Moralbewußtseins gefordert“, heißt es seiner Studie. Mit dem letztlich unpolitischen Ruf nach mehr Anstand entledigten sich die Verantwortlichen der unbequemen Frage nach den Ursachen der Krise. „Durch intensives Läuten der Moralglocken können kritische Stimmen der Basis mühelos übertönt werden.“

Der Soziologe diagnostiziert zumindest für die hessischen Grünen den Verlust von zwei zentralen Ansprüchen: Einst wegen ihrer Kompetenz in ökologischen Fragen quer durch die Gesellschaft anerkannt, fällt es der Partei inzwischen schwer, in der Politik fachlich übehaupt mitzuhalten. Außerdem sei die Partei gekennzeichnet vom „weitgehenden Verzicht darauf, einen Beitrag zur Erneuerung der politischen Kultur“ zu leisten. „Es gilt schon als Erfolg grüner Politik, wenn diese nicht skandalös auffällt.“

Bezeichnend ist das Bild, das Giegel von der Besetzung grüner Ministerämter zeichnet. Wie bei den früher oft wegen ihrer institutionellen Starre verhöhnten Altparteien, geben bei der Ämtervergabe lokalpatriotischen Kriterien den Ausschlag: „Hessisch“ müßten die KandidatInnen sein und über eine ausgewiesene „Nähe zur hessischen Führungsriege“ verfügen. Fach- und Führungskompetenz hätten bestenfalls „einen ganz nachgeordneten Stellenwert“. Der nächste Skandal ist damit vorprogrammiert: „So manövrieren sich die Grünen mutwillig in eine Lage hinein, in der sie, statt mit realen Erfolgen grüner Politik überzeugend argumentieren zu können, trotzig über fingierte Kompetenzen ihres Spitzenpersonals zu reden gezwungen sind“, sagt Giegel. Während grüne Politik in Landtag und Ministerien zunehmend von Hilflosigkeit geprägt ist, setzt sich die Stagnation nach Einschätzung Giegels im Parteiapparat fort. „Grabenkämpfe scheinen die Regel zu sein“, und zwar entlang aller nur denkbaren Fronten: in der Landtagsfraktion, zwischen Fraktion und Landesvorstand sowie zwischen diesen beiden Gremien und den Ministerien. Gemeinsam, so das vernichtende Urteil, träten die Bündnisgrünen nur noch auf, wenn es um die Sicherung ihrer Macht gehe.

Obwohl Giegels Analyse vor der hessischen Landesversammlung am Wochenende veröffentlicht wurde, vermieden die Delegierten eine Debatte zum Thema. Den Autor dürfte das kaum gewundert haben. Bescheinigt er doch auch der grünen Basis Passivität: „Nötig ist nur ein bißchen Populismus, um die Basis, die von all dem nichts wissen will, von der Notwendigkeit der Wiederwahl der Grünen zu überzeugen.“