Analyse
: Israel droht mit Abzug

■ Die Besetzung des südlichen Libanon ist zu verlustreich geworden

Syriens Staatschef Hafis al-Assad droht sein Joker im Nahost-Poker abhanden zu kommen: die libanesische Hisbullah. Am Samstag erklärte deren Generalsekretär, Hassan Nasrallah, im Falle eines israelischen Rückzugs aus dem Südlibanon würde seine Organisation keine Kämpfer an Israels Grenze stationieren. Dieses De-facto-Friedensangebot an Israel muß in Damaskus Sorge auslösen.

Denn die syrische Führung nutzt die Attacken der Hisbullah auf israelische Besatzungstruppen im Libanon und die Raketenangriffe auf Nordisrael, um auf ihr eigenes Anliegen hinzuweisen: die Räumung des ebenfalls israelisch besetzten Golan. Für Syriens Staatschef sind Verhandlungen über einen israelischen Abzug aus beiden Gebieten untrennbar miteinander verbunden. Wenn in Beirut zu laut über die von Israel angebotenen unilateralen Friedensverhandlungen nachgedacht wird, läßt Assad Libanons Staatspräsident, Regierungschef und Parlamentspräsidenten nach Damaskus einbestellen und erinnert sie daran, daß 35.000 syrische Soldaten im Libanon stationiert sind. Weil sich Israels Regierungschef Netanjahu weigert, die von seinem ermordeten Vorgänger Rabin gemachte grundsätzliche Zusage eines Abzuges vom Golan zu wiederholen, ist der Nahost-Friedensprozeß zwischen Syrien, Libanon und Israel blockiert.

Doch ausgerechnet aus Jerusalem kommt jetzt Bewegung. Israel droht mit Abzug seiner Truppen aus dem Südlibanon – ohne Verhandlungen, einfach so. Der Vorschlag stammt von einem erklärten Militaristen: Ariel Scharon, der 1982 die israelischen Truppen bis nach Beirut schickte. Nicht Friedensliebe hat ihn zu diesem Gedanken bewogen, sondern Kalkül. 20 Jahre nach dem Einmarsch hat Israel von der Okkupation immer weniger Nutzen, aber um so mehr Schaden. Unternahm die Hisbullah früher im Durchschnitt zehn Attentatsversuche auf israelische Soldaten im Monat, so zählten UN- Soldaten allein im Februar 115. Angesichts der eigenen Verluste gilt die Hisbullah israelischen Militärs als „beste Guerillaarmee der Welt“. Die mit Israel verbündete Südlibanesische Armee (SLA) steht dagegen vor dem Zerfall.

Dafür, daß es den Israelis ernst ist, spricht auch die derzeitige Nahost-Mission Kofi Annans. Das israelische Fernsehen will erfahren haben, daß der UN-Generalsekretär, der gestern von Beirut nach Damaskus flog und heute in Jerusalem erwartet wird, einen Fünf-Punkte-Plan in der Tasche hat. Mit dessen Umsetzung hätte die Hisbullah, deren Führung schon länger nicht mehr die „Befreiung Palästinas“ propagiert, sondern nur noch die Vertreibung der israelischen Besatzer aus dem eigenen Land, ihr Ziel erreicht. Und Syriens Staatschef müßte noch eine Weile auf den Golan verzichten. Thomas Dreger