Die Geschichte von jedermann/frau

Jared Diamond auf der Suche nach den langwirkenden Faktoren für die Überlegenheit eurasischer Kulturen. Die Antwort: Guns, Germs & Steel. Zwei großflächige Untersuchungen aus anthropologischer Sicht, ebenso unterhaltsam wie belehrend, rezensiert von  ■ Andrea Goldberg

Ohne falsche Bescheidenheit beschreibt Jared Diamond im englischen Untertitel sein neuestes Buch als „die Geschichte von jedermann in den letzten 14.000 Jahren“. Da es sich nicht um eine meterbreite Enzyklopädie handelt, sondern ein im Umfang ganz gewöhnliches populärwissenschaftliches Werk, kann man schon stutzig werden. Doch dann wird man sehr schnell und überzeugend eines Besseren belehrt: der Evolutionsbiologe, eine Autorität in Genetik, Anthropologie, Paläonthologie, Linguistik und Umweltforschung, ist wie kaum ein zweiter imstande, den Siegeszug des Homo sapiens über die fünf Kontinente und die Wechselbeziehungen der Völker und Kulturen kohärent und spannend zu beschreiben.

„Guns, Germs and Steel“ heißt sein jüngstes Buch (im Original), das der Professor aus Los Angeles seinen „Freunden und Lehrern (...) aus Neu-Guinea“ gewidmet hat. Der Titel ist ein Hinweis auf die wichtigsten „Werkzeuge“, mit denen sich die afrikanischstämmigen Eurasier die Erde, die „gemeine Fauna“, ihre Vettern die Primaten (vom Orang-Utan bis zum Neandertaler) und schließlich Menschen anderer Kulturen (wie ihre in Afrika verbliebenen Brüder) untertan gemacht haben.

Um es gleich klarzustellen: Als Physiologieprofessor ist sich Jared Diamond ständig der Tatsache bewußt, daß auf seinem Fachgebiet die größten akademischen Verbrecher tätig waren, daß Sklaverei, Euthanasie, Genozid jahrhundertelang von der Mehrheit seiner gelehrten Kollegen „wissenschaftlich begründet“, wenn nicht aktiv propagiert wurde. Gewiß ist es kein Zufall, daß er auch einige Semester an der Universität München studiert hat, wo seine Professoren ihrerseits noch in „Rassenkunde“ unterrichtet worden sind.

Keine Suche nach dem „edlen Wilden“

Von spezieller Bedeutung für Entwicklungsbiologen ist Neu-Guinea als einer der letzten Horte für sowohl Jäger und Sammler als auch Landwirtschaft mit Steinzeittechnologie. Auch gibt es auf der Pazifik-Insel, die etwas größer ist als die iberische Halbinsel, mit 1.000 der 6.000 lebenden Sprachen eine einzigartige Vielfalt von nebeneinander existierenden Kulturen. Den „edlen Wilden“ hat Jared Diamond dort selbstverständlich weder gesucht noch gefunden – Kopfjäger und Kannibalen dagegen manchmal schon. Doch auch unter „Steinzeitvölkern“ ist er nie Menschen begegnet, deren Intelligenz und Fähigkeiten einem technisch hochentwickeltem Volk unterlegen sind.

Was die letzten Jäger und Sammler angeht, ist im Vergleich zur modernen städtischen Bevölkerung eher das Gegenteil wahr: Wegen ihres aktiven, kommunikativen und risikoreichen Lebensstils, ohne verblödendes passives Entertainment, sind junge Papuas ihren europäischen Altersgenossen in vielen Intelligenzmerkmalen überlegen. Auch sie können ein Philosophiestudium bewältigen oder ein Überschallflugzeug steuern, wenn sie die nötige Schulung bekommen. Dagegen hat Professor Diamond es auch nach vielen Jahren nicht gelernt, sich im Dschungel zurechtzufinden, weil er dort einen unüberbrückbaren Erfahrungsrückstand hat.

Eines Tages stellte ihm sein Freund Yali die einfache Frage, wie die Weißen all das „Cargo“ (importierte Produkte von der Stecknadel bis zum CD-Player) entwickelt haben, mit dem sie jetzt die Märkte Neu-Guineas überschwemmen.

Die Antwort auf Yalis Frage ist: Guns, Germs and Steel. Diamonds zentrale These kann man grob so zusammenfassen: Die Masse macht's. Die größte Landmasse, die größte Konzentration an Menschen, potentiellen Nutzpflanzen und domestizierbaren Tieren waren die Voraussetzungen für den erfolgreichsten Übergang zu Land- und Volkswirtschaft. Nur in Eurasien konnten Mensch, Tier und Nutzpflanze sich schnell ausbreiten, weil unser Superkontinent mit seiner Ost-West-Achse, seinen ähnlichen klimatischen Bedingungen und wenigen natürlichen Barrieren für jede Art menschliche Interaktionen (Krieg, Handel) die besten Umstände bietet. Also wurden auch wichtige Erfindungen (Metallverarbeitung, Schriften) schnell unter vielen rivalisierenden Kulturen verbreitet und damit ständig verbessert, verschmolzen und vorangetrieben.

Ein einfaches Vorbild ist das Rad, das vor 5.000 Jahren zum erstenmal in Südwestasien auftauchte. Innerhalb weniger Jahrhunderte wurden von Griechenland bis China Ochsen, Pferde und Wasserbüffel vor allerlei Karren gespannt. Das war ein riesiger Sprung vorwärts in der Lebensmittelversorgung, beim Städtebau und in der Kriegsführung. Auch im heutigen Mexiko wurde das Rad erfunden, aber das einzige potentielle Zugtier auf dem amerikanischen Kontinent war das Lama. Dort fanden wegen der ungünstigen geographischen und klimatischen Umstände (das Lama überlebt keine Reise durch den zentralamerikanischen Dschungel, in den Hochanden sind Karren von wenig Nutzen) Zugtier und Rad nicht zueinander.

Ganz nebenbei hat der tägliche Umgang mit dem lieben Vieh die Eurasier auch noch resistent gemacht gegen viele Bakterien – unsere wichtigste Waffe bei der Eroberung Amerikas. Denn dort hatten die erst vor 14.000 Jahren eingewanderten Mongolen die meisten großen Säugetiere, die sie vorfanden, ausgerottet (unter anderem Pferde und Kamele).

In seinem vorigen Buch, „Der dritte Schimpanse“, hatte Jared Diamond die Eroberung der „Alten Welt“ von Kapstadt bis Paris, von Dakar bis Sydney vor 40.000 bis 50.000 Jahren durch den afrikanischen Homo sapiens beschrieben. Würden wir morgen einem Ur-Homo-sapiens in einer Weltstadt begegnen, würde dieser gemeinsame Vorfahre der Bantus, Mongolen und Indogermanen uns kaum besonders auffallen.

„Ur-Homo-sapiens“ – vertraute Spezies

Neandertaler, Yeti, Javamensch und die anderen Hominiden, die Zeugen des Vormarsches des Homo sapiens wurden, überlebten die Konfrontation mit unseren überlegenen Vorfahren nicht. Die „Affenmenschen“ waren zwar kräftiger und mit größeren Gehirnen ausgestattet als wir, doch ihnen fehlten gut entwickelte Sprachorgane und sie wurden nicht alt genug, um die nötigen Erfahrungen zu sammeln und weiterzugeben. Ansonsten sind sie der ausgerottete Beweis für den fließenden Übergang vom Menschenaffen zum Homo sapiens (unsere Gene sind zu 98,4 Prozent identisch mit denen der Schimpansen). Jared Diamonds Theorien über die Entwicklung der verschiedenen Primatenarten sind erst kürzlich durch DNA-Tests an Knochen von Neandertalern bestätigt worden.

Mit dem Ende der vorigen Eiszeit, 11000 v. Chr., wurden große Teile der Landmassen unter Wasser gesetzt und Kontinente (Amerika, Neu-Guinea/Australien) isoliert. Als dann kurz darauf die ersten seßhaften Gesellschaften entstanden, war die logische Folge der geographischen Gegebenheiten, daß die Entwicklung sich in den größten zusammenhängenden Einheiten am schnellsten vollzog, in kleineren (Neu-Guinea) beinahe stagnierte und in ganz kleinen Außenposten (Tasmanien mit 4.000 Einwohnern) sogar rückläufig wurde.

Warum die Europäer zwischendurch siegten

Für die Tatsache, daß von allen Eurasiern die Europäer im entscheidenden Moment des Aufeinandertreffens der Kulturen die Nase vorn hatten, gibt es vor allem (umwelt-)politische Gründe. Die zwei hoffnungsvollsten Mitbewerber für die Weltherrschaft – die allerersten Kulturzentren, China und der fruchbare Halbmond im Nahen Osten – hatten ihren Vorsprung durch politische Faktoren verloren. Der Nahe Osten war durch intensive Landwirtschaft und Überbevölkerung ökologisch ausgelaugt. Nach der schnellen kulturellen und politischen Integration Chinas hatte die Zentralgewalt einen „Entwicklungsstopp“ unter anderem auf dem Gebiet der Überseefahrt verhängt. Im Europa der rivalisierenden Mächte dagegen konnte ein imperialer Visionär wie Kolumbus mit seinen Plänen von einem Fürsten zum anderen hausieren gehen. Doch das resultierte in vorübergehenden Vorteilen innerhalb eines großen Entwicklungsstromes, dessen Korrektur wir gerade miterleben.

Jared Diamond: „Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“. Aus dem Amerikanischen von Volker Englich. Fischer Verlag, 1998, 492 S., 58 DM

Jared Diamond: „Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen“. Aus dem Amerikanischen von Volker Englich. Fischer TB, 1998, 19.90 DM