Letter from Shanghai
: Bibo grüßt das blaue Schwein

■ In China guckt man neuerdings „Sesamstraße“ – und kauft bei Ikea ein

Bei einem Treffen der China Federation of Literary and Art Groups in Peking wurden die chinesischen Künstler und Schriftsteller aufgefordert, eine farbigere sozialistische Kultur zu schaffen, denn 1998 sei ein weiteres wichtiges Jahr auf dem Weg der Reformen, der Öffnung und der Modernisierung des Landes.

In Shanghai werden dazu erste Impulse gegeben, wenn man auch konzedieren muß, daß das befreundete Ausland seinen Teil zur Farbigkeit beiträgt. Seit dem 2. Februar signalisiert Shanghai Television die führende Rolle der Stadt auch in diesem Reformplan durch die Ausstrahlung der „Zhima Jie“, die dem lokalen Kinderfernsehen zu neuer Buntheit verhelfen soll. „Zhima Jie“, das ist die „Sesamstraße“ mit chinesischen Eigenschaften, entstanden in Koproduktion mit den „Sesamstraßen“-Erfindern des Children's Television Workshop und gesponsert von General Electric, mit Dialogen und Spielszenen, die auf die Alltags- und Erfahrungswelt der Shanghaier Kinder zugeschnitten sind.

In den ersten 130 Folgen läßt sich Freundschaft mit den chinesischen Verwandten von Bibo, hier „Da Niao“, großer Vogel, genannt, sowie Ernie und Bert und dem Krümelmonster schließen. Besonders niedlich und jetzt schon sehr beliebt ist das kleine blaue Schwein, das im Verein mit einem kleinen roten Monster auftritt. Für ausländische Kinder in Shanghai, die die „Sesamstraße“ von zu Hause kennen, bieten sich ungeahnte Möglichkeiten, sie mit neuen Geschichten in einer neuen Sprache zu verbinden.

So wird das europäische Auge Zeuge einer immer schneller fortschreitenden Fremdheitsreduktion, während umgekehrt für die Shanghaier der Zustrom westlicher Unterhaltung, Mode, Architektur, Nahrungsmittel oder Musik von zuweilen atemberaubender Exotik ist. Schon länger gibt es den australischen Feinkostladen, wo man sein biologisch korrekt angebautes Müsli erwirbt und wo Joghurt ohne Zuckerzusatz den Menschen über Entfernungen, die etwa der Distanz von Berlin-Steglitz nach Neukölln entsprechen, zum Kauf lockt.

Von dort sind es auf der Hochstraße nur wenige Taximinuten zum neuen Tempel farbiger Wohnkultur: Seit Januar ist der erste Ikea auf dem chinesischen Festland geöffnet, und damit ist für Shanghai und Umgebung die Versorgung mit „Billy“-Regalen (heißen hier genauso) gesichert. Jedoch – verglichen mit dem Angebot herkömmlicher chinesischer Einrichter, die sich auf schwellende (Kunst-)Ledergarnituren und schwerste Holzmöbel oder auf kostspielige Nachbauten von Qing-Dynastie-Salons und dräuende Schlafzimmerausstattungen im finstersten Art deco spezialisiert haben, wirkt das Angebot der Firma mit dem Elch auf einmal sehr exotisch.

Wer soll diese beängstigend zart, bunt und unernst wirkenden Möbel kaufen? Spaziert man durch die noch spärlich besuchten Modellzimmer, begegnet man der Zielgruppe: Es sind „dinkies“, junge, westlich orientierte Paare und gutverdienende Singles. Bei Ikea Shanghai sieht es im übrigen genauso aus wie bei Ikea in Neuss, überhaupt ist alles wohltuend bekannt, auch das lange Warten an der Warenausgabe, bis endlich der Wagen mit den Neuerwerbungen angerollt kommt und man die Beute nach Hause schleppen kann. Das weltweit einheitliche Kaufritual enthebt den ausländischen Kunden auch weitgehend irgendwelcher Sprachkenntnisse. Diese werden hingegen vom chinesischen Käufer verlangt, für den das Geschäft doch angeblich eingerichtet wurde. Beim Zusammenbauen des neuen Küchentischs stellt sich heraus, daß sich auch an den Gebrauchsanweisungen nichts geändert hat – aber von einer chinesichen Übersetzung hat man abgesehen. Stephanie Tasch