Mit dem Rauswurf der Regierung Tschernomyrdin kam Boris Jelzin immer lauter werdenden Forderungen nach einem „Rücktritt des volksfeindlichen Regimes“ zuvor. Rußlands Präsident will eine Mannschaft, die Reformen energischer vorantreibt Aus Moskau Barbara Kerneck

Boris Jelzins Flucht nach vorn

Wer sich noch vor ein paar Tagen bei Mitarbeitern des bisherigen russischen Ministerpräsidenten Tschernomyrdin erkundigte, wann er denn den langerwarteten Rechenschaftsbericht der Regierung vor der Duma halten wolle, der wurde scherzhaft abgespeist: vor seinem Geburtstag am 9. April sei Wiktor Stepanowitsch so etwas doch nicht zuzumuten.

Gestern früh um acht Uhr sah sich der Premier dafür mit einer Zumutung ganz anderen Kalibers konfrontiert. In einer Art von Husarenstreich feuerte Präsident Jelzin ihn samt allen Ministern und übernahm selbst provisorisch die Leitung der Regierungsgeschäfte. In einer Fernsehansprache forderte Jelzin gestern vormittag eine energischere Regierung, die die Reformen kraftvoller betreiben werde als die abgehalfterte Mannschaft. Von den neuen Namen im Kabinett konnte die Öffentlichkeit bis Redaktionsschluß nur einen erfahren: erster stellvertretender Ministerpräsident wird Sergej Kirijenko (35), seit November fungierte er als Energieminister.

Offenbar haben Tschernomyrdin und seine als „junge Reformer“ bekannten Stellvertreter Anatoli Tschubais und Boris Nemzow mit ihrer Verzögerungstaktik in Sachen Rechenschaftsbericht in den Augen des Präsidenten den Bogen überspannt. Immer fadenscheiniger wurden die Ausweichmanöver, mit denen sie auf die Frage reagierten, wann denn den Werktätigen die in vielen Teilen des Landes seit Monaten erneut zurückgehaltenen Pensionen und Gehälter ausgezahlt würden.

Nun rückt der 9. April heran, zufällig nicht nur Wiktor Tschernomyrdins Geburtstag, sondern auch das Datum eines von den Gewerkschaften und der kommunistischen Fraktion groß angekündigten landesweiten Protesttags. Mit Demonstrationen und Warnstreiks wollen Hunderttausende, wenn nicht Millionen von RussInnen auf ihre soziale Situation aufmerksam machen und die ihnen zustehenden Zahlungen einfordern.

Die „linke Opposition“ in der Duma mit der Kommunistischen Partei an der Spitze war auch formal im Recht, wenn sie die Regierung aufforderte, noch vor diesem Tag ihre Karten auf den Tisch zu legen. Sie hatten im Herbst ihr angedrohtes Mißtrauensvotum gegen Tschernomyrdin und seine Mannschaft zurückgezogen, nachdem der Premier viele Versprechungen gemacht hatte. Unter anderem hatte er auch versprochen, den ominösen Bericht noch im Februar dieses Jahres vorzulegen. Der Präsident hatte an der Lösung des damaligen Konflikts aktiven Anteil genommen. Seine gestrige Entscheidung zeigt, daß er sich in dieser Rolle ernst nimmt. Wie Parlamentssprecher Gennadi Selesnjow richtig bemerkte, ist Jelzin damit gleichzeitig den Losungen der April-Demonstranten zuvorgekommen, die den „Rücktritt des volksfeindlichen Regimes“ fordern wollten.

Insgesamt vorsichtig in seinen Prognosen schloß Selesnjow gestern doch eine Rückkehr des bisherigen Vizepremiers Anatoli Tschubais in eine neue Regierung aus. „Tschubais ist für die Öffentlichkeit eine verhaßte und überfällige Figur“, sagte der Duma-Sprecher. Tschubais selbst nahm die Nachricht seiner Absetzung ruhig auf. „Ich wußte, daß die Entscheidung des Präsidenten seit langem vorbereitet wurde“, sagte er. Der rothaarige Wirtschaftsfachmann verlieh seiner Zuversicht Ausdruck, daß Rußland den Reformkurs beibehalten werde und sich die nach der überraschenden Nachricht ins Taumeln geratenen Aktienkurse wieder beruhigten.

Der Abstieg des bisherigen ersten Vizepremiers bedeutet einen Triumph für den mächtigen Finanzmogul und zeitweiligen stellvertretenden Sekretär des Sicherheitsrates und Politdrahtzieher Boris Beresowski. Beresowski stand schon letztes Jahr hinter einer mächtigen Pressekampagne anläßlich von Unregelmäßigkeiten in Tschubais' Amtsausübung, die diesen schon das Amt des Finanzministers gekostet hatte.

Beresowski gab am Samstag abend im Nachrichtenmagazin „Itogi“ des Privatsenders NTV ein Interview. Der oft als „Oberoligarch“ apostrophierte Geschäftsmann machte sich darin über Vizepremier Boris Nemzow lustig, weil dieser letzte Woche einen „Kampf gegen die Oligarchie“ verkündet hatte. Als einstiger Finanzier von Jelzins letztem Präsidentschaftswahlkampf erteilte Beresowski allen bisher für das Jahr 2000 gehandelten Präsidentschaftskandidaten einschließlich Nemzow schlechte Zensuren. Jelzin selbst, so Beresowski, werde nächstes Mal „nicht mehr wählbar“ sein. Dafür versprach er dem Land „schon bald ganz neue Gesichter“.