Gesammelte Splitter

■ Bremer Podium mit dem Komponisten Hanspeter Kyburz

Auch wenn man längst weiß, wie unterschiedlich seit dem Verlust verbindlicher Formenkanons die Handschriften bzw. Stile zeitgenössischer Komponisten sind, auch täglich damit Umgang hat, gibt es immer wieder Begegnungen, die über dieses Phänomen von neuem staunen lassen. So jetzt bei dem 1960 geborenen Hanspeter Kyburz. Mit Hans Zender und besonders Gösta Neuwirth hatte er radikale und kompromißlose Lehrer, heute ist er selbst Professor für Komposition an der Hochschule für Musik in Berlin. Obschon er seine kompositorischen Formen klar aus philosophischen und systemtheoretischen Überlegungen – „und da sind noch lange nicht alle ausgeschöpft“– gewinnt, arbeitete er doch im Bremer-Podium-Workshop direkt an der Musik.

Die blitzartigen Gestalten in seinem Stück „Danse aveugle“für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier sucht er zu variieren und profilieren und klar gegen Nebengestalten abzugrenzen, auch zu präzisieren. „Sie gewinnen“, sagt Kyburz, „erst im Kontext ihrer Reihung den spezifischen Charakter“. „Gesammelte Splitter“, „offene Objekte“, die keinen Anfang und kein Ende haben, ordnet er zu einer bogenartigen Form und „überläßt die Synthese dem Hörer“.

Ergibt sich in diesem Stück so die Form aus kleinsten Partikeln, so geht Kyburz auch umgekehrt vor. In „Cells“für Saxophon und Ensemble zum Beispiel verhaken sich horizontale Linien zu immer neuen und anhaltend überraschenden Klanggestalten. In „Parts“für großes Ensemble – mit drei Schlagzeugern – kommt uns in mehreren Sätzen eine tiefe, dramatische Trauer entgegen: aufällig ist, daß noch jeder Satz von Kyburz in der verebbenden, resignativen Stille endet.

Er habe das Bedürfnis, sagte Kyburz im Workshop, „intellektuell nachvollziehbar“zu sein: Ein hoher Anspruch und ein frommer Wunsch, denn der musikalische Hörer kennt meist keine philosophischen Systeme, und wenn er sie kennt, wird er sie nicht direkt aus Musik heraushören. Bleibt die Musik: Im Konzert des großartigen Ensembles United Berlin unter der Leitung von Zsolt Nagy wirkten die Motivzellen in „Cells“fiebrig, nervös, in jedem Moment grell und unberechenbar, auf jeden Fall lustvoll und sinnlich in dem unerwarteten Energiepotential, das mit der kleinen Besetzung erreicht wird.

Dagegen erschien „Danse aveugle“als ein fragiles, glasklares Gebilde, das auf ein wahnsinniges Tempo hinzielt und dann zerfällt – „Blinder Tanz“. Und „Parts“für 22 SpielerInnen – so viel sind beim Bremer Podium noch nie aufgetreten – zeigt mehr noch als die anderen Stücke die räumliche Konzeption von Kyburz' Werken: Der Hörer wird fast schockhaft in verschiedene Räume versetzt, taumelt auch durch ganz traditionelle Crescendi. Kaum zu glauben, daß eine solch schnell wechselnde Klanglust sich Computerprogrammen und Algorithmen verdankt.

Und: Es ist die berstendste und lauteste Ensemblemusik, die mir bekannt ist. Viel und herzlicher Beifall im gut besuchten Sendesaal. Ute Schalz-Laurenze