Deutsch-französische Protestformen ohne Grenzen

■ Diskussion: Was können deutsche Erwerbslose von französischen Protesten lernen?

Von Frankreich lernen heißt protestieren lernen. Um die Schlagkraft der Arbeitslosenbewegung zu verstärken, wären viele Aktionsformen vorstellbar: Zum Beispiel die Besetzung von Sozial- und Arbeitsämtern (was gerade wieder frankreichweit versucht wurde); die „Beschlagnahme von Reichtümern“ (in Edellokalen und Supermärkten); kollektive Krankenhausbesuche (um kostenlose Behandlung zu erzwingen); die Erzwingung eines kostenlosen Nahverkehrstransports (was in den französischen Vorstädten teilweise bereits erfolgreich war); Go-ins bei Elektrizitäts- und Telefongesellschaften (um Schuldnern wieder ans Netz zu verhelfen); und aggressive Zusammenrottungen, um konkrete Zwangsentmietungen zu verhindern.

Kann man diese Aktionsformen kopieren? Auf Einladung des Aktionsbündnisses für Erwerbslosenproteste plauderten am Montag abend Organisatoren der französischen Arbeitslosenbewegung aus dem Nähkästchen. Zum Zuhören und Diskutieren hatten sich etwa 50 deutsche Arbeitslosenaktivisten in der Humboldt-Universität eingefunden. Bisher testet das Berliner Aktionsbündnis bereits durch allwöchentliche Stadt-„Spaziergänge“ eigene Möglichkeiten und fremde Reaktionen. (Zuletzt wurde das Arbeitsamt IV, der Theatermacher Christoph Schlingensief, die taz und das Lokal „Sale e Tabacchi“ heimgesucht, dessen zuvorkommende Bedienung man lobte). Wie die Franzosen setzte man dabei auf einen Mittelmix – aus organisiertem und wildem Vorgehen. Auch die Sympathie der Medien ist hier wie dort ähnlich. Aber in Frankreich gibt es seit den 95er Streiks eine Zusammenarbeit zwischen Arbeitern, Gewerkschaften und Erwerbslosen, deren Bewegung bereits mit den „Reformisten“ gebrochen und eine eigene „Basisgewerkschaft“ aufgebaut hat: die SUD-PTT. Ihr geht es darum, mit dem Bild des Arbeitslosen „als Opfer“ zu brechen.

Die deutsch-französischen Unterschiede sind deutlich, wie sich bei der Veranstaltung zeigte. So geht es deutschen Arbeitslosen trotz geringem Sozialhilfesatz noch besser als französischen Jobsuchenden. Seit den neuerlichen Regierungsversprechen (1 Mio ABM für Jugendliche und 700.000 neue Arbeitsplätze bis zum Jahr 2002) zeichnet sich zudem eine Spaltung der Bewegung ab. Die Linksradikalen versuchen – gegen Jospin, ihren Aktionismus zu steigern, um wieder mehr Arbeiter und Arbeitslose „reinzuziehen“. Eine ähnliche Strategie verfolgen auch die hiesigen Initiativen. Es ist noch ein Mittelschicht-Phänomen: der Versuch, über phantasievolles Streetfighting eine Ersatzkarriere aufzutun – mindestens „Spaß“ zu haben, wie es sich einer der Diskussionsleiter in der Humboldt- Uni wünschte. Helmut Höge