Die Herren des Diskurses

Theater und Politik orientieren sich an anderen Bezugspunkten als die Intellektuellen. Doch die halten hartnäckig an den alten Drehbüchern fest. Seinen Max Weber und Habermas im Kopf zu haben ist in Deutschland immer noch wichtiger, als genau hinzuschauen  ■ Von Jürgen Busche

Der Abstand wird beklagt, in den die Intellektuellen zur Politik geraten sind. Aber ist es nur die Politik, die eines intellektuellen Glanzes entbehren muß? Ist nicht auch etwa das Theater längst allen Foren intellektueller Debatten entrückt? Man braucht da – um den Verlust zu spüren und zu verschmerzen – keineswegs zuerst an Schiller und eine moralische Anstalt zu denken. Aber die bühnenwirksamen, ja reißerischen Stücke von Sartre und Camus prägten einst fruchtbare intellektuelle Diskussionen und wurden von ihnen geprägt. Ihr Stil ist nicht nur der dramatischen Literatur, er ist erst recht der Theaterwirklichkeit abhanden gekommen. Die dramatisch-bildhafte Darstellung eines Gedankens und die Abbildbarkeit des Lebens durch real agierende Personen passen nicht mehr zusammen.

Das Theater und die Politik orientieren sich an anderen Bezugsräumen, als es die Intellektuellen tun. Überrascht werden davon, was natürlich ist, nur die Intellektuellen. Als Helmut Schelsky vor Jahrzehnten sein provozierendes Buch „Die Arbeit tun die anderen“ schrieb, da schrieb er, der Soziologe, seine Analyse immer noch als Intellektueller, das heißt: Er attackierte einen Anspruch, der dabei war, obsolet zu werden, weil die getane Arbeit eine veränderte Wirklichkeit schuf und die damals noch imponierenden Intellektuellen den Kontakt dazu verloren. Ihre vermeintliche Herrschaft im Diskurs der öffentlichen Meinung war schon an ihr Ende gelangt; möglicherweise nur deshalb konnte Schelsky so exakt beschreiben, worin sie einmal bestanden hatte und was an ihr anstößig gewesen war.

Das Theater kann Kontroversen des öffentlichen wie des privaten Lebens nicht mehr in der dramatischen Pointierung intellektueller Positionen darstellen, weil diese Kontroversen nicht mehr durch intellektuelle Prozesse definiert oder definierbar sind. Das hat das Theater Brechts – seit seiner Wendung zum Marxismus – nicht wahrhaben wollen. Aber das Theater von Luigi Pirandello bis Dario Fo hat das gewußt und weiß das. Die Politik muß das nicht wissen. Die Kunst hat wesentlich früher bemerkt, daß ihr die Drehbücher abhanden gekommen sind. Die Politiker brauchten es nicht zu bemerken – es reichte, daß plötzlich Staatsmänner das Feld beherrschten, die an Drehbüchern der Staatskunst nicht interessiert waren: Adenauer in Deutschland, Generale wie Eisenhower und de Gaulle in Amerika und Frankreich. De Gaulle hatte allenfalls noch nebenher intellektuelles Format, ebenso Churchill, der zuerst der „Weltabenteurer im Dienst“ war und hernach seine Bücher darüber schrieb. Kennedys Präsidentschaft war die lustvoll inszenierte und zum Machtgewinn mißbrauchte Erinnerung an den Glanz intellektuell verklärter Herrschaft. Die Praxis gehörte auch damals schon Männern wie Nixon oder Lyndon B. Johnson. Von Clintons Wiederbelebungsversuch des alten demokratischen Mythos ist nur – ein Attribut des Intellektuellen, freilich nicht in Deutschland – das Image des Schürzenjägers geblieben.

In Deutschland dagegen hält sich die intellektuelle Kommentierung des politischen Geschehens und ihrer Akteure noch am hartnäckigsten bei den alten Drehbüchern auf. Tocqueville, Max Weber, Habermas – die im Kopf zu haben ist in der politischen Diskussion allemal wichtiger, als genau hingeschaut zu haben, wie aktuelle Politiker es anstellen, Erfolg an Erfolg zu reihen. Mit Blick auf den Zusammenhang von Weltgeschichte und Ideengeschichte seit Aristoteles ist es sicherlich nicht nur attraktiver, sondern auch klüger, den Tanzboden der Artisten nicht zu verlassen und das Parkett des zahlenden Publikums zu meiden. Indes: Wenn im Zuschauerraum die Marktstände aufgeschlagen werden, verhungern die Darsteller auf der Bühne. Die Intellektuellen werden als Vermittlungsinstanz einstweilen nicht mehr gebraucht.

Das hat sich – um ein drittes Beobachtungsfeld zu eröffnen – zuletzt kraß in der Belletristik gezeigt. Bücher wie „Hannas Töchter“ oder „Schlafes Bruder“ sind ganz ohne die Virtuosenstücke der Literaturkritik zu Bestsellerehren gelangt. Das geschah gleichsam hinter dem Rücken der Rezensenten. Gegenwärtig ist zu beobachten, ob es auch gegen ihre massive Ablehnung möglich ist. Aber es sieht so aus, als brauchten sich Romanautoren für ihren Erfolg beim lesenden Publikum ebensowenig um die intellektuelle Kritik scheren wie Helmut Kohl um das Niveau der politischen Debatte, wenn er um Wähler buhlt.

Die Frage ist, ob das den intellektuellen Beobachter und Kenner historisch beglaubigter Drehbücher gleichgültig lassen kann – im einen wie im anderen Fall: Muß nicht der Intellektuelle eher hinschauen, wenn ein Roman, der ja nicht Schund sein will und auch Ansprüche zumindest an die Geduld des Lesers stellt, Erfolg hat, als daß ein Schriftsteller darüber nachzudenken hätte, weshalb er wohl bei den Lesern, kaum aber bei der Kritik ankommt? Und dies angesichts eines Rezensionswesens, in dem wiederum die erfolgreichsten Kritiker das intellektuell geschärfte Handwerkszeug aus dem Arsenal der Philologie längst fortgegeben haben und ihre Buchbesprechungen schreiben wie Erlebnisberichte von einem Lektüreabenteuer: Der Literaturkritiker als Miniprosaiker und Verbraucherberater!

Und muß nicht der Intellektuelle als kritischer Beobachter der Politik eher hinschauen, wenn Politiker, denen man es ja nicht als Vorsatz unterstellen kann, das Volk zu verderben, im demokratisch organisierten Betrieb Erfolg haben, und zwar auf Dauer, als daß der Inhaber eines hohen Partei- oder Staatsamtes nach seinen Kritikern sehen müßte, die ihm zwar die Welt erklären können und alle Philosophen, die über die Welt geschrieben haben, nicht aber, wie man eine Partei zusammenhält, Wahlen gewinnt und mit der Verwaltung über die Runden kommt. Das ist nicht der Stoff, aus dem die Drehbücher gemacht sind, die den Intellektuellen vorschweben, wenn sie über Politik reden.

Das ist auch gut so. Den intellektuellen Diskurs über Politik muß es geben. Wenn aber die Verbindung zwischen dem Diskurs der Intellektuellen und der Praxis der Politiker abgerissen ist, dann ist es Sache der Herren des Diskurses, das Gespräch wieder herbeizuführen und verpflichtend zu machen, nicht der Herren der Praxis, mit ihren Mitteln des Diskurses zu erobern. In der Schule darf die Überlegenheit des Lehrers die Praxis des Lernens bestimmen und erzwingen. Wenn die Schulzeit vorbei ist, braucht es, um Menschen zum Nachdenken, zum Lernen zu bringen, der intellektuellen Verführungskünste, auf deren Genuß dann das Publikum in Entscheidungssituationen nicht mehr verzichten mag.

Der Intellektuelle als Vermittler muß wenigstens zum Kuppler taugen. Der Kuppler jedoch vergißt nie, daß zwar seine Kunst nicht altert, wohl aber, was er anzubieten hat. Bei den Intellektuellen heute scheint es umgekehrt zu sein.