Monströse Fratze, armer Kerl

■ Garantiert Webber-frei: Das Alabama zeigt den Horror-Klassiker Das Phantom der Oper mit Live-Musik

Zweimal am Tag sind die Straßen rund um die Neue Flora unpassierbar. Immer wenn an der Holstenstraße das Erfolgsmusical Phantom der Oper seine Geschichte von der unerwiderten Liebe eines entstellten Soziopathen zu einer unbekannten Sopranistin erzählt, sind drinnen die Besucher gerührt und draußen die Verkehrsteilnehmer wegen der wartenden Taxis genervt. Und es soll immer noch Leute geben, die das Musical für ein Phantasie-Produkt von Andrew Lloyd Webber halten. Natürlich ist das Phantom der Oper von Webber aber weder geschrieben noch kreiert worden. Sein Verdienst ist es nur, daß die einst so gothic inszenierte Liebesgeschichte eher mit einer Bühnen-Schmonzette als mit einem düsteren Melodram in Verbindung gebracht wird.

Doch Liebhaber von Gaston Leroux' Novelle wissen genau, welche der zahlreichen Adaptionen sie ins Herz geschlossen haben. Neben der literarischen Vorlage selbst lassen die meisten Fans nur den amerikanischen Stummfilm von Rupert Julian aus dem Jahr 1925 gelten. Lon Chaney Sr. spielt darin den Antihelden Erik. Durch einen Säureunfall zum „Phantom“entstellt, fristet er in den Katakomben der Pariser Oper ein einsames Da-sein und hofft durch die Liebe zur Sängerin Christine (Mary Philbin) zurück ins Leben zu finden. Doch die liebt einen anderen; selbst ihre Entführung bringt den Engel dem Verzweifelten nicht näher. Und das Ende ist natürlich überhaupt nicht happy. In der berühmten Demaskierungsszene, in der Christine das wahre Gesicht ihres Peinigers erblickt, werden die Sehnsüchte jäh enttäuscht. Das Phantom zerstört durch sein entsetzliches Antlitz die eigenen wie die romantischen Projektionen Christines auf immer und ewig.

Lon Chaneys Darstellung des Liebenden machte aus dem damals 42jährigen den ersten Star des US-Horrorfilms. Zuvor hatte er neben über 70 Kurzfilmen und Features mit Der Glöckner von Notre Dame schon einmal einen mitleiderregenden Antihelden der Schauerroman-Ära verkörpert. Seine berühmte Verwandlungsfähigkeit samt erster professioneller Special-Make-ups brachte ihm den Ruf des „Mannes mit den 1000 Gesichtern“ein. Gern wird in diesem Zusammenhang auf die gehörlosen Eltern Chaneys verwiesen, die bei der Entwicklung seiner Mimik geholfen haben sollen.

Anders als in Deutschland, wo das Phantastische Kino der Zwanziger sich aus einem expressionistischen Verständnis von Raum- und Figurenkonstellation entwickelte, arbeitete Chaney verstärkt auf einen emotionellen Unterhaltungseffekt hin. Meisterregisseur Tod Browning etwa, mit dem er mehrere Male zusammenarbeitete, setzte häufig auf die Desillusionierung des Übernatürlichen, um seine Zuschauer nicht zu sehr in Aufregung zu versetzen und sie statt das „grauenhaft Unmögliche“lieber das „grauenhaft Mögliche“fürchten zu lassen.

Im Phantom der Oper konstituiert sich die vordergründig phantastische Aura des Phantoms durch die Ebene der Liebe: Die Gestalt des Erik ist zwar furchterregend, seine Sehnsüchte aber zutiefst menschlich. Von Anfang an ist klar, daß der tragische Unhold von dieser Welt ist und nur durch einen Schicksalsstreich zu einem Aussetzigen wurde. In diesem Spannungsfeld liegt der zeitübergreifende Reiz des Stücks.

Musical oder gute alte Grusel-Novelle – die Programmleitung des Alabama-Kinos hat sich für die zweite Variante entschieden und zeigt zum dritten Mal einen Stummfilm mit neuartiger und live gespielter Vertonung. Nach 49 – 17 und Die freudlose Gasse wagt sich das Duo Orgelstück an diesem Wochenende an eine trashige Interpretation der klassischen Phantom-Themen. Die Hamburger Musiker Günter Mertens (Die Freie Garage) und Klaus Sieg (1/2 Couch) werden dabei mit ihrer Instrumental-Staffage aus Contrabaß, Lapsteel und Keyboard die Patina auf ungewohnte Art und Weise wegblasen. Garantiert Webber-frei.

Oliver Rohlf

Sa, 28., 22.30 Uhr; So, 29. März, 12 Uhr, Alabama auf Kampnagel